PARIS, PESSACH 2018

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Photo: David Monniaux, CC BY-SA 3.0

Flucht aus Frankreich, nicht Ägypten

Wenn man die berühmte Einkaufsstraße Rue Saint-Honoré weiter nach Osten geht, sich von den ‚name-brand’ Geschäften entfernt, wo Paris jeder anderen Stadt der Welt gleicht, erreicht man eine normale Wohngegend mit kleinen Bäckereien und frischen Baguettes in den Fenstern, die mehrmals täglich gebacken werden. Jeder, der hier frisches Brot holt, beißt die knusprige Spitze ab, noch bevor er das Geschäft verlassen hat.

Auf der rechten Seite, ein paar Querstraßen nach dem geplanten neuen Chanel-Tempel, erreicht man durch einen breiten Eingang, der in einen kleinen Hof führt, eines der berühmten Schokoladegeschäfte, wo jetzt kurz vor Ostern Hochbetrieb herrscht. Daneben ist ein billiger Juwelierladen mit Glasschmuck, bunten Ohrringen und Ketten, die eher durch interessantes Design auffallen als durch wertvolle Edelsteine.

Am Eingang des Juwelierladens klebt ein kleines Merkblatt mit einem Aufruf für eine Demonstration. Mir fiel der Jüdische Stern auf den Poster auf, und ich versuchte den Text mit meinem schlechten Französisch zu entziffern, als eine ältere Frau, rundlich, mit einem bunten Tuch über den Schultern, aus dem Laden kam und mich ansprach.

Ich entschuldigte mich für meine mangelnden Sprachkenntnisse und sie redete auf Englisch weiter.

»Kommen Sie zu der Demonstration heute Nachmittag?«, fragte sie.
»Es tut mir leid, aber um was geht es, ich habe den Text nicht ganz verstanden?«, antwortete ich.

Sie deutete mit ausgestreckter Hand auf meine Kette, die über dem Pullover hing mit einer kleinen Mesusah.
»Sie tragen eine Mesusah um den Hals, dann sollten sie auch zur Demonstration gehen!«, sagte sie.
»Geht es um den Mord an der älteren jüdischen Frau?«, fragte ich.

»Ja, natürlich, um was sonst. Das ist ja nur ein Fall, der in der Zeitung steht. Ein extremer Fall, sicherlich, aber es geht um mehr, es geht um unser Leben, unsere Kinder, unsere Heimat, all das will man uns wegnehmen!«

Sie bat mich in das Geschäft. Es begann zu regnen, und meine Papiertasche vom Schokoladegeschäft nebenan drohte nass zu werden. Hinter der altmodischen Kasse hingen ein paar Fotos an der Wand. Sie zeigte auf eines und sagte:

»Schauen Sie, hier! Das ist meine Mutter. Sie kam 1950 mit ihren Eltern aus Marokko und lernte in Paris meinen Vater kennen, dessen Familie sich nach Spanien retten konnte und nach dem Krieg zurückkam. Seine Familie lebt seit mehr als 200 Jahren in Paris. Dieses Geschäft haben seine Großeltern eröffnet. Und jetzt sollen wir alles liegen und stehen lassen und davonrennen?«

Ich schüttelte nur den Kopf und wusste im Moment nicht, was ich sagen sollte.

»Haben nicht viele Juden bereits Frankreich verlassen?«, fragte ich sie nach einer Minute Schweigen, die mir zu lang wurde.

»Ist das die Lösung?«, fuhr sie mich an. »Ja, es stimmt. Viele meiner Freunde haben Wohnungen in Tel Aviv und in den USA gekauft. Manche sind auch fortgezogen. Mein Nachbar, das noble Schokoladengeschäft, wo sie als Jude Ostereier kaufen, statt am Seder-Abend den Auszug aus Ägypten zu feiern« – sie lachte laut auf und fuhr dann fort – »hat mich vor eine Woche gefragt, ob ich nicht mein Geschäft verkaufen möchte. Ich fragte sie, wie sie auf die Idee komme, und sie sagte, ihr würdet doch jetzt alle wegziehen. Ich fragte sie, wen sie mit ›ihr‹ meinen würde. Das war ihr dann peinlich und sie meinte nur, na ›ihr‹ halt.

Warum soll ich mich von hier vertreiben lassen von diesen Fanatikern, die erst seit kurzer Zeit hier sind. Wir haben diesen Hass seit der Besatzungszeit durch die Deutschen nicht mehr in Frankreich erlebt. Und niemand hilft uns, niemand ist auf unserer Seite. Die schönen Reden der Politiker können wir uns bei Demonstrationen und Begräbnissen anhören. Doch es gibt jüdische Hochzeiten, jüdische Restaurants, Synagogen, jüdische Schulen und koschere Supermärkte. Dort stehen jetzt schwerbewaffnete Soldaten und beschützen uns. Ich habe noch von keiner islamischen Hochzeit gehört, die von Männern mit Maschinengewehren beschützt werden muss. Meine Kinder besuchten noch öffentliche Schulen. Nie gab es ein Problem. Meine Kinder schicken ihre Kinder jetzt in Privatschulen, weil es in den öffentlichen den täglichen Terror gegen jüdische Kinder gibt.«

»Gibt es das Restaurant Goldenberg noch?«, unterbrach ich sie.

»Nein, beide sind geschlossen. Es hat sich keiner mehr getraut, dort hinzugehen. Jeden Tag nehmen sie uns einen Zentimeter Leben weg, bis nichts mehr übrigbleibt«, antwortete sie leise.

Eine Frau betrat das Geschäft, schlank, sehr nobel gekleidet, mit einem nassen Regenschirm, den sie ausschüttelte. Etwas jünger als die Inhaberin. Die beiden begannen aufgeregt zu sprechen und ich versuchte dem Gespräch zu folgen. »Sag es auf Englisch«, sagte die Inhaberin und deutete auf mich.

Die schlanke Frau lächelte mich an. Sie hatte glatte, dunkle Haare mit grauen Strähnen dazwischen und weigerte sich offensichtlich, ihr Alter zu verbergen.  Ihr kaum geschminktes Gesicht zeigte eine zeitlose Schönheit. Sie fragte mich, wo ich herkommen würde und deutete wie ihre Freundin auf meine Kette und den Anhänger, die noch immer auf dem Pullover lag.

Sie sei vor einer Woche von Tel Aviv zurück nach Paris übersiedelt, erzählte sie. Vor zwei Jahren, nach den furchtbaren Anschlägen in Paris, seien sie Hals über Kopf nach Israel ausgewandert. Ihr Mann habe zwar weiter in Paris gearbeitet und sei jedes Wochenende nach Tel Aviv gekommen, doch sie wollten die Kinder aus dem Land bringen. Jetzt ginge es nicht mehr. Sowohl die Kinder als auch sie und ihr Mann hätten sich nie zu Hause gefühlt in Israel. Sie hätten ihre Freunde vermisst, das Café an der Ecke, die Oper und das Theater und die fetten, ungesunden Croissants, die der Bäcker den Kindern auf dem Weg zur Schule oft vor dem Geschäft in die Hand gedrückt hatte, wenn sie wie jeden Tag zu spät aufgestanden waren.

Noch nach einem Jahr konnte keiner von ihnen Hebräisch. Sie lebten in einem französischen Ghetto unter lauter Emigranten, wo alle jeden Tag darüber sprachen, wie sehr sie Frankreich vermissten. Was für ein jämmerlicher Alltag das gewesen sei und was für ein Leben man aufgegeben hätte!

Wieder eine dieser langen Minuten, in der keiner etwas sagte.

»Verdammt«, sagte sie plötzlich.

»Ich bin keine Israelin! Ich bin Pariserin und lasse mir nicht meine Heimat stehlen von ein paar islamischen Fanatikern. Sollen doch die zurück in die Wüste gehen, was hab‘ ich dort zu suchen! Es ist doch lächerlich, dass Araber aus ihren Lehmhütten in unsere Apartments in Paris einziehen und wir in ihre Hütten übersiedeln sollen, weil wir uns vor ihnen fürchten.«

Ich stand stumm da und hörte zu, nickte manchmal und dachte mir, dass mit dieser Aussage die elegante Frau vor anderem Publikum in die Reihen der Rechtsextremen verbannt werden würde.

»Und? Wie soll es dann weitergehen«, fragte ich.

»Es reicht einfach! Trotz der Verschlimmerung der Situation und diesem grässlichen Mord ändert sich die Stimmung hier«, antworte die Schlankere der beiden mit diesem perfekten französischen Akzent, als würde sie sich für eine Filmrolle bewerben.

»Wir fangen an, uns zu organisieren. Dokumentieren jeden Fall und melden ihn den Behörden. Wir fordern die Polizei auf, den Angriffen nachzugehen, jedem einzelnen, und nicht erst auf die Katastrophen zu reagieren. Wir melden jeden Angriff, jede Beleidigung und jede einzelne Beschimpfung der Schulleitung und den Behörden, wenn unsere Kinder attackiert werden, und verlangen, dass eingeschritten wird. Kinder, Jugendliche und vor allem die Studenten organisieren sich und schlagen zurück, wo es notwendig ist. Wenigstens gibt es jetzt Prügeleien in den Schulen, und unsere Kinder lassen sich nicht einfach beleidigen. Der Angriff gegen eine antisemitische Demonstration von Palästinensern, wo jüdische Studenten Stühle der umliegenden Cafés auf die Demonstranten warfen, war erst der Anfang.

Wenn wir eines von Israel gelernt haben und schon nicht dort leben können, dann ist es die Fähigkeit, sich zu wehren, zurückzuschlagen, zu reagieren.

Dann soll es eben zu Ausschreitungen und Prügeleien kommen, das ist egal und vielleicht notwendig. Wir sind nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung und letztes Jahr waren fast 40 Prozent aller rassistischen Anschläge gegen Juden gerichtet. Wenn die islamischen Fanatiker den Krieg wollen, dann sollen sie ihn haben. Wir sind besser organsiert, haben mehr Geld und sind außerdem intelligenter. Sie sollen uns kennenlernen!«

Jetzt musste ich lachen. Von der wütenden, wunderbaren Frau ging eine Erotik aus, auf die ich nur mit Lachen reagieren konnte. Die beiden Frauen sahen mich kurz an und begannen ebenfalls zu lachen. »Wenn ich nicht diese Kette tragen würde, könnt‘ ich direkt Angst bekommen vor ihnen«, sagte ich.

»Sehen Sie, wenn es bei ihnen wirkt, warum sollte es nicht auch bei denen wirken!«, sagte die Inhaberin des Geschäftes, und wieder lachten wir alle drei.

Vielleicht aus Verzweiflung. Vielleicht jedoch mit der Hoffnung und dem Optimismus, dass so wie wir drei uns gegenseitig die Angst nahmen und Mut zusprachen, etwas verändern werden könnte, wenn man sich einfach nicht mehr alles gefallen lässt und nur auf die Hilfe anderer wartet.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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2 comments

  • ich bin zuversichtlich, dass die Juden in Europa sich der Invasion aus der Wüste erwehren werden… zeigen sie doch in Israel vor wie’s geht

  • Ich hoffe, daß die elegante Pariserin recht hat, glauben kann ich leider nicht daran. Warum? Weil die anderen, die Feinde, einfach zu viele sind.
    lg
    caruso