LESEN, SCHREIBEN, RECHNEN.

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Der Nationalsozialismus – was war das?

Eine SORA-Studie von 2017 offenbart, dass hierzulande 33% der bis 35-Jährigen nicht wissen, ob die NS-Zeit etwas Positives oder Negatives gewesen ist.

Dies ist weniger eine Frage des Fehlens des verpflichtenden Unterrichtes in “Politischer Bildung”, sondern der massiven Defizite der 15-Jährigen beim Lesen, Schreiben und Rechnen – was bis zu 40% dieser Altersgruppe betrifft. Ohne die Beherrschung dieser Grundkompetenzen ist auch anderer Unterricht sinnlos – ganz besonders die Politische Bildung, die ohne Abstraktionsvermögen, das man sich beim Lesen, Schreiben und Rechnen aneignet, zum Scheitern verurteilt ist. Auf die neue Bundesregierung wartet eine gewaltige „Schul-Aufgabe“ und eine herausfordernde Chance für die im Juli 2018 startende EU-Präsidentschaft.

Vorwahlzeit. Bildungsdiskussion an der Fachhochschule Wels. Ein philosophisch-politisches Podium: Nachwuchsprobleme in technischen Fächern, Schwächen auch von Maturanten im Lesen, Schreiben und Rechnen, „Brückenkurse“ an Unis für das Nachholen des AHS-Stoffes, eine „häppchen- und kompetenzorientierte“ Zentralmatura à la U-Bahn-Zeitung, ein teils schulgemachter, Österreichs Prosperität behindernder Hilfsarbeiter- und Fachkräftemangel, der Zukunftschancen vermindert.

Wie konnte das soweit kommen?

Bis weit in die 60er Jahre prägen Lehrer die Schulen, die in der NS-Zeit, die in den Schulzeugnissen Turnen als erstes und wichtigstes Fach positioniert hatte, sozialisiert worden sind. Nicht selten sind dies Problemlehrer – traumatisiert und kriegsversehrt, den „Zusammenhalt“ der NS-Volksgemeinschaft beschwörend, Spott und Beschämung über Schwächere und Außenseiter ausgießend. „Vergasen, Selektion, Sonderbehandlung“ gehören zum Unterrichtsvokabular.

Trendwende

Junge, aufgeklärte Lehrer, die die befreienden Ideen der 68er in die Schulen tragen, neue Hoffnungen, große Visionen. „Büffeln & Pauken“ ist out, kein stures Auswendiglernen mehr, sondern Selbstbewusstsein, Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortung. Aber auch Kollateralschäden: Wesentliche Erkenntnisse der Lernpsychologie werden in der Euphorie ignoriert, das regelmäßige Üben – unverzichtbar für Erwerb und Sicherung der Grundkompetenzen – wird schrittweise entsorgt. Das Spektrum des Unterrichts erweitert sich – Tennis, Briefmarkensammeln, Orientierungslaufen, Zimmergewehrschießen und nahezu die gesamte Freizeit werden „schulisch“.

Das Wirtschaftswunder ermöglicht die Berufstätigkeit beider Elternteile – bejubelt gleichermaßen von Konservativen (Wirtschaftswachstum) und von Linken (Selbstverwirklichung). Der Staat verspricht das schulisch/familiäre Paradies: „Liebe Eltern, ihr braucht euch um den Schulerfolg eurer Kinder nicht mehr zu kümmern – der Staat macht alles!“

Wortbruch

Trotz des anschwellenden schulischen Aufgabentsunamis gibt es Stundenkürzungen. Satt echten Ganztagsschulen bietet man Aufbewahrung – euphemistisch „Betreuung“ genannt – an Nachmittagen. Die Lehrerbildung wird nicht für neue Erfordernisse nachgerüstet: zunehmende Unterschiedlichkeit der Schüler, Deutsch als Fremdsprache, die für die Sicherung von Unterrichtserfolg  und echter Schulfreude unverzichtbaren Unterrichts-, Kommunikations-, Beziehungs- und Motivationstechniken, keine ganztagstauglichen Schulbauten, keine ausreichenden „Werkplätze“ und Regenerationsräume für Lehrer, dafür teils zeitraubende, keinen Nutzen stiftende „Bürocrazy“.

Bereits in den 1980ern weisen Studien auf die drohenden Defizite im Bereich des Lesens, Schreibens und Rechnens hin. In den 1990ern macht eine Unterrichtsministerin diese Bedenken öffentlich – sie wird für verrückt erklärt. Jene, die diese Entwicklung sehr wohl registrieren, hoffen auf die „Selbstheilungskräfte“ des Systems Schule. Doch dieses wird von einem Schulverwaltungsmoloch gelähmt, der die Entwicklung der erhofften Selbstheilungskräfte nicht zulässt, der auf schulische Eigenverantwortung aufbauende, echte Autonomie verhindert, und der für ein Volk von 66 Mio. Einwohnern ausgelegt ist – die k & k Monarchie lässt grüßen. Die Bildungs“reform“ des heurigen Jahres verfestigt die Hierarchiekaskade – Stichwort parteipolitisch besetzte Bildungs“direktionen“ statt schulpraktisch hilfreicher, schlanker, parteipolitikfreier Koordinations- und Servicestellen in den Bundesländern bzw. Regionen.

Eine Studie von 2017 weist nach, dass in Österreich heute 33% der bis 35-Jährigen nicht sagen können, ob die NS-Zeit etwas Gutes oder etwas Schlechtes gewesen ist. Es wird ein weiteres Mal der Ruf nach dem verpflichtenden Unterrichtsgegenstand „Politische Bildung“ laut. Doch macht diese Sinn ohne ausreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen – Defizite, die bis zu 40% der 15-Jährigen betreffen? Nein.

Chancen

Das Wissen, wie diese Probleme in den Begriff zu bekommen sind – dass über das Gelingen von Schule zu rund 90% das individuelle, autonome „Tun der Lehrer“ vor der Klasse entscheidet, und dass die Fortbildung der im Beruf stehenden Lehrer weit bedeutender ist als die „formale Lehrerbildung“ – ist vorhanden, wird seit Jahren von allen Printmedien kommuniziert, wird von punktuellen schulischen „best practices“ auf beeindruckende Weise live vorgezeigt, wird in Parlamentsausschüssen den Volksvertretern und Regierenden von Fachleuten aus Wissenschaft und Schulpraxis auf oft drastische Weise nahegebracht.

Österreich ist mit seinen Bildungsproblemen in Europa nicht allein. Nicht nur Staaten in Südeuropa, auch vom Bildungserfolg verwöhnte Länder Skandinaviens beklagen zunehmend Leistungsverluste ihrer Schulsysteme. Österreich hat sich einst nicht ganz zu Unrecht als kulturelles Zentrum des Kontinents gesehen.

Unsere kleine und daher überschaubare Heimat sollte sich auf diese große Tradition besinnen und zu einem europäischen Labor für die gelingende Schule von morgen werden. Österreichs bevorstehende EU-Präsidentschaft wäre dafür eine ideale Startrampe! Das nötige Wissen, die Erfahrung und der Durchblick dafür sind vorhanden – jetzt müssen lediglich die nötigen Taten folgen! Setzen wir sie – ohne Verzögerung, denn Juli 2018 ist morgen!

Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

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  • Quellen:

    • Nationalsozialismus, SORA-Studie, 2017

    • Zu den Defiziten in den Grundkompetenzen. Arbeiten u. a. des „Institutes für Höhere Studien/IHS“, Wien

    • Eine Schulverwaltung für 66 Mio. Einwohner. NATIONALER BILDUNGSBERICHT 2015 von Bildungsministerium und BIFIE, Band 2 (Kapitel Bildungsfinanzierung, Lorenz Lassnigg e. a.)

    • Zur Bedeutung des Unterrichtes und der Lehrerfortbildung. HATTIE-Studie „Visible Learning 2014“, weiterführende Arbeiten u. a. der Universität Wien (S. Hopmann).