DER TOTE FRISÖR

D

oder: Warum Juden Wien trotzdem lieben

In der Liliengasse im 1. Bezirk in Wien gibt es einen Frisör nur für Männer. Ein kleines Lokal mit drei Sesseln, ich glaub, jetzt sind es sogar vier neben einander, einer winzigen Bank für die Wartenden und ein paar Zeitungen. Der ganze Raum nicht viel größer als eine Küche.

Vor vielen Jahren arbeiteten dort zwei Brüder und der Sohn einer der beiden. Später ging der eine Bruder in Pension und es kam ein fremder Frisör dazu. Dann verschwand auch langsam der andere Bruder. Er kam zwar noch einmal die Woche, doch der Sohn übernahm mit seiner Tochter den Laden. Immer noch die Sessel nebeneinander, immer noch konnte man nicht reservieren, und auf der kleinen Bank warteten Minister, Direktoren, der Briefträger, der sich in der Mittagspause die Haare schneiden ließ, der Priester einer der Kirchen in der Umgebung, und vor allem hatte diese Institution des Haarschnitts besonders viele Juden als Kunden.

Manchmal blieb ein großer Mercedes vor dem Geschäft stehen, mit einem Chauffeur in dunklem Anzug und ein wichtiger Herr sprang aus dem Wagen, stürzte ins Geschäft und erklärte einem der Brüder, er habe genau in einer Stunde eine kurze Pause und könne dann für den Haarschnitt vorbeikommen.
 Leider, antwortete dann wie immer einer der Brüder, und der andere und der Sohn lächelten, es gäbe bei ihnen keine Reservierungen, selbst wenn der Kanzler anrufen würde. Sie seien jedoch zu dritt hier und niemand würde länger als zehn Minuten warten.

Der Frisör war und ist eine Institution in Wien. Als die beiden Brüder noch arbeiteten, gab es keine Tabus, keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten, Herkunft oder Religion. Jeder der Kunden musste damit rechnen, dass man sich über ihn lustig machte, und dass intime Gerüchte öffentlich diskutiert würden. Oft mit einem Zynismus und einer Offenheit, die in keinem anderen Laden möglich gewesen wäre.

Auch untereinander sprachen die Brüder und der Sohn oft in einem Ton, als ob sie sich im Grunde genommen nicht leiden könnten. Der Humor erreichte manchmal eine Aggressivität, dass man als Kunde nur staunend dasaß und nicht mehr wusste, ob die drei nun alles hinschmeißen und zu raufen beginnen würden, statt mit dem Haarschneiden fortzufahren.

Vor ein paar Tagen ging ich bei dem Geschäft vorbei, der Sohn stand auf dem Gehsteig davor, was er immer gerne tat, wenn keine Kunden warteten, und sprach mit einem anderen Mann. Er begrüßte mich und ich fragte ihn, wie es so gehe, doch er hatte Tränen in den Augen und sagte, sein Vater sei am Tag zuvor gestorben. Ich stammelte die üblichen Floskeln, meinte, dass es mir leidtue und ich so gute Erinnerungen hätte an die Zeit, als sein Vater noch regelmäßig arbeitete.

Der Sohn nickte und antwortete, ja, es sei immer eine Hetz mit dem Vater gewesen und das würde ihm am meisten abgehen. Wer könne das schon über seinen Vater sagen, sagte ich zu ihm, gab ihm die Hand und versprach ihm, bei meinem nächsten Wienbesuch auf jeden Fall vorbeizukommen.

Am Weg zurück zum Hotel erinnerte ich mich an eine Szene im Frisörladen, die so typisch für die Atmosphäre dort war.

Ich saß vor vielen Jahren, als die beiden Brüder und der Sohn noch alleine arbeiteten, auf der Bank und wartete bis ich an die Reihe kam. Vor mir saß in der linken Ecke neben dem Fenster ein älterer Mann, in der Mitte ein Jüngerer und rechts einer im mittleren Alter in einem dunklen Anzug, der offensichtlich nervös war, weil ihm alles schon zu lang dauerte. Der Sohn arbeitete immer in der Mitte, links und rechts die beiden Brüder.

Die Tätowierung

Der alte Mann links beim Fenster war Jude, hatte den typischen leicht jiddischen Akzent, konnte sich perfekt auf Deutsch unterhalten, und dennoch war seine Herkunft nicht zu verbergen. Ich habe vergessen, wie sie auf das Thema der Vergangenheit kamen, aber plötzlich sprach der alte Jude über die Nummer auf seinem Arm, die er immer noch mit sich herumtrug, und die ihn diese Zeit nicht vergessen ließ.

Waschen, meinte der eine Bruder während er ihm die Haare schnitt, einfach fleißig waschen, irgendwann würde es verschwinden. Der alte Mann lachte und sagte, er wäre dankbar für einen Tipp, wie er die Nummer loswerden könne.

Da es auch üblich war, dass man sich in die Gespräche der anderen Kunden einmischte, fragte der in der Mitte sitzende jüngere Kunde, was es denn für eine Nummer sei, die der Alte am Arm habe. Ein paar Sekunden lang war es ruhig im Geschäft. Selbst bei all den Frechheiten, die hier ausgetauscht wurden, schien dieses Thema ein gewisses Erstarren auszulösen.

Sie sind ein junger Mann, sagte der alte Jude plötzlich und unterbrach damit das Schweigen. Sie können sich nicht vorstellen, was es lange vor Ihrer Zeit alles hier gegeben hat.

Wieder schwiegen alle eine Zeit lang und jeder fürchtete, dass die Leichtigkeit, die hier immer herrschte, diesmal dem Ernst weichen müsste.

Ja, aber eine tätowierte Nummer am Arm, das ist doch schon etwas übertrieben, sagte der junge Mann und veränderte die Stimmung im Geschäft, eine gewisse Spannung und Nervosität folgten der gelösten Heiterkeit und alle warteten, wie der alte Jude nun reagieren würde.

Schauen sie, ich werde es versuchen, Ihnen zu erklären, antwortete der Jude, und ich erwartete eine der schrecklichen KZ-Geschichten.

Doch es kam anders.

Damals, lange bevor Sie geboren wurden, fuhr der Jude fort, war ich einer der ersten, der in Österreich ein Telefon bekam. Es waren die Beziehungen meines Vaters, die geholfen hatten, denn nicht jeder konnte einen Anschluss ergattern, es war wirklich schwierig, da es nur wenige Nummern zu vergeben gab.

Plötzlich hatte ich ein Telefon mit einer Nummer, einer eigenen Nummer, die nur mir gehörte. Und Sie werden es nicht glauben, aber es war wie verhext, ich konnte sie mir nicht merken. Ich schrieb sie auf Zettel, die ich in der Jackentasche trug. Ich verlor den Zettel oder konnte ihn im entscheidenden Moment nicht finden. Ich schrieb sie mir mit Bleistift auf die Handfläche, es verwischte sich.

Jedes Mal, wenn mich jemand nach meiner Nummer fragte, sagte ich eine falsche, bekam nie einen Anruf, und die ganze Mühe, einen Anschluss zu bekommen, war für die Katz.

Also entschloss ich mich, das Unmögliche und wirklich Dumme zu tun. Ich ließ mir die Nummer auf den Arm tätowieren und ich sag Ihnen, es war wirklich die beste Lösung. Von da an schob ich einfach heimlich, wenn ich mich umdrehte, den Ärmel hoch, und da war auch schon die Nummer.

Die anderen Kunden und auch ich verharrten im Schweigen, keiner lachte. Die Situation war einfach zu grotesk und auch nicht mehr komisch. Die übliche Hemmschwelle des Humors wurde hier überschritten, und wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten.

Nur der junge Mann hatte keine Hemmungen. Er lachte laut auf und meinte, so etwas habe er noch nie gehört.
 Sie haben sich wirklich die Telefonnummer tätowieren lassen? Das ist doch auch ein Risiko, wenn sich zum Beispiel die Nummer ändert, meinte er.

Ja, da haben Sie leider recht, antwortete der Jude, sie hat sich auch geändert nach ein paar Jahren, und ich Idiot lauf bis heute mit derselben Nummer herum.

Naja, manchmal bezahlt man sein ganzes Leben für einen einzigen Blödsinn, sagte der junge Mann und lachte.

Der Sohn, der dem jungen Mann die Haare schnitt, hatte sein Kunstwerk beendet, zeigte mittels eines Spiegels dem Herrn die Rückseite des Kopfes, dieser nickte zufrieden, stemmte sich aus dem Sessel, zahlte, schlüpfte in seinen Mantel und verließ das Geschäft. Niemand sagte ein Wort, keiner klärte ihn auf, nur der alte Jude wünschte ihm noch einen schönen Tag.

Kaum hatte der junge Mann das Geschäft verlassen, fing der alte Jude an zu lachen, und wie in der Schule, wenn der Lehrer einen Witz machte, durften wir alle lachen.

Unser Wien

Für mich war dieses Erlebnis ein Symbol für das Leben der Juden in Wien, die Widersprüche des geduldet und akzeptiert seins, gleichzeitig mit den ständigen Vorurteilen zu leben und dennoch fast verzweifelt diese Stadt als Heimat einzufordern. In keiner anderen Stadt fühlten sich Juden einst so zu Hause und wurden wenig später so verachtet, verhöhnt und verfolgt. Doch sie lässt uns nicht los, diese Stadt, die Atmosphäre, der Humor, die Widersprüchlichkeit kommen der jüdischen Kultur und Tradition näher als alle anderen Kulturen, Sprachen und Orte.

Wir sollten sie uns nicht nehmen lassen, diese Stadt. Sie gehört auch uns, weil wir sie uns geformt und gestaltet haben über Jahrzehnte mit viel Mühe und Geduld, so dass wir in ihr leben können wie ein Fisch im Wasser. Auch wenn Juden immer schon heimatlos waren, ändert das nichts daran, dass wir Wien einfach zu einem Zu Hause machten.

Sollen sie uns doch alle endlich in Ruhe lassen mit ihren Drohungen und Warnungen, den Antisemitismus aufzeigend, wann immer sie ihn sehen und eigentlich nicht sich selbst, sondern nur uns Juden immer wieder an die Vergangenheit erinnern. Jeder ‚Nazi-Vorwurf‘ ist ein Rückschlag auf dem Weg zur Normalität für uns Juden, da es nicht um die Distanzierung von den Tätern geht, sondern um die Erinnerung an unsere Verwandten, die nicht überlebt hatten.

Wir haben unsere eigenen Methoden, mit dem Antisemitismus zu leben, manchmal mit Humor, manchmal mit Zorn oder Enttäuschung. Aber man soll uns selbst entscheiden lassen und uns nicht belehren, wie wir damit umzugehen haben. Und wenn wir manchmal gar nicht reagieren oder über Unwissenheit und Ignoranz einfach nur lachen, dann ist auch das unsere Entscheidung.
 

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte jetzt die SCHLAGLICHTER!

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications

2 comments