GEDENKT DER TÄTER

G

Wien, Heldenplatz, 15.März 1938, Bundesarchiv Bild 183-1987-0922-500, CC BY-SA 3.0 DE

Und schafft euch euren eigenen Gedenktag

In meinem Buch ‚Schuldig geboren‘ (Köln, 1987), in dem Kinder von Nationalsozialisten über ihre Kindheit und ihr Verhältnis zu den Eltern sprachen, beschrieb eine junge Frau ihre Zweifel gegenüber einer plakativen Verurteilung ihrer Eltern.

„Nehmen wir an“, erzählte sie mir damals, „mein Mann würde nach Hause kommen und stolz berichten, man habe ihm eine neue Stellung angeboten, allerdings in einem Gefängnis. Wir müssten zwar mit der ganzen Familie übersiedeln, man habe ihm jedoch das doppelte Gehalt und ein schönes Haus versprochen und die Menschen dort seien ohnehin alle Verbrecher und würden auch entsprechend behandelt.

Würde ich ihn fragen, wer die Menschen sind, die man dort einsperrt? Würde ich ihn fragen, was mit ihnen geschieht? Würde ich mich wirklich für seine Tätigkeit interessieren und ihn auch konfrontieren, wenn ich das Gefühl hätte, Menschen würden dort ungerecht behandelt oder sogar misshandelt werden? Oder wäre ich einfach froh über das schöne neue Haus und das gute Einkommen meines Mannes?

Wie kann ich so sicher sein, dass ich so anders bin als meine Eltern? Können Wölfe von einer Generation zur nächsten zu Schafen werden?“

Nie wieder

Man diskutiert bis heute die Folgen der Erlebnisse der Überlebenden für die 2. und 3. Generation. Ganze wissenschaftliche Bibliotheken könnte man mit den Untersuchungen und Spekulationen über die Übertragung von psychischen Problemen auf die Kinder und Enkel der Holocaust-Überlebenden füllen.

Die Erlebnisse der Überlebenden, und vor allem ihre Beschreibungen der Morde an jenen, die nicht überlebten, sind dokumentiert, tausende Interviews in den verschiedensten Museen und Uni-Instituten gespeichert und bis heute lässt man sie bei den Holocaust-Gedenktagen sprechen, auch wenn ihre Erinnerungen mehr als 70 Jahre zurückliegen.

Wichtigste Botschaft der Überlebenden und der Feierlichkeiten rund um die Befreiung von Auschwitz ist der Slogan: NIE WIEDER.

Dagegen ist nichts einzuwenden, wer könnte etwas dagegen haben. Wer wünscht sich schon eine Wiederholung der Holocaust-Katstrophe. Wenn sich da nicht die quälende Frage aufdrängte: An wen richtet sich eigentlich die Botschaft: Nie wieder? Wer ist für die Nicht-Wiederholung verantwortlich? An wen wendet man sich mit der Forderung, dass es sich nie wieder wiederholen dürfe?

Holocaust-Gedenkfeiern laufen immer nach dem gleichen Muster ab. Es beginnt mit ein wenig klassischer Musik, leise, nur nicht zu laut und auch langsam, es muss auf jeden Fall traurig klingen. Dann sprechen Frauen und Männer in dunkler Kleidung oft mit leiser und dumpfer Stimme über ihre Erschütterung. Sie leiden, man sieht es ihnen an, muss es ihnen ansehen, sonst ist der Zweck nicht erfüllt. Bei manchen hat man das Gefühl, sie hätten das verzweifelte Gesicht vorher auf der Toilette vor dem Spiegel geübt.

Sie ringen nach Worten, um den Schrecken von Auschwitz zu beschreiben, zu erklären und ihre eigene Reaktion darauf zu erklären. Oft steigert sich die verbale Dramatisierung von einem Redner zum nächsten und man spürt förmlich die Verzweiflung der Redenschreiber, den Vorredner noch übertrumpfen zu müssen, oder vielleicht sogar als einziger die ‚richtigen‘ Worte gefunden zu haben. Dabei bleiben die schrecklichsten Geschichten immer unerzählt, weil das nicht die Erlebnisse der Überlebenden sind, sondern jene der Ermordeten.

Worüber trauern sie?

Sie leiden mit den Opfern, als ob es nicht genug Gründe gäbe, über die Schuld der Täter zu trauern. Sie leiden nicht daran, dass sie sich nicht erklären können, warum der/die eigene Mutter/Vater/Großvater/Großmutter/Onkel und Tante sich damals einer kollektiven Barbarei unterworfen haben und wie wilde Tiere ihre eigenen Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen ans Messer lieferten. Sie verzweifeln nicht daran, dass sie vielleicht herausfinden, ihre Großeltern würden in einer Wohnung leben, die vorher einer jüdischen Familie gehörte.

Oder, dass die Bäckerei an der Ecke der Straße, wo sie als Kinder auf dem Weg zur Schule immer in die Straßenbahn eingestiegen sind, Eigentum eines Juden war, der vertrieben und enteignet worden war und sie nie zurückbekommen hat. Sie leiden nicht, wenn sie eines Tages, als sie den Schreibtisch des vor kurzem verstorbenen Vaters aufräumten, einen SS-Ausweis fanden, obwohl er ihnen immer erklärt hatte, er sei nur einfacher Soldat an der Front gewesen. Sie leiden auch nicht an den Lügen der Eltern/Großeltern, die angeblich nie etwas gewusst hatten und erst nach dem Krieg erfahren mussten, was für ein furchtbares Schicksal die Juden zu erleiden hatten.

Vielleicht interessiert es sie nicht, hat es sie nie interessiert, weil sie Angst hatten, dass in ihrer eigenen Familie die Geschichte aus Büchern und Filmen plötzlich zur Familiengeschichte werden könnte.

Warum eigentlich nicht? Warum stöbern sie nicht in dieser eigenen Familiengeschichte und versuchen herauszufinden, was ihre Verwandten damals getan haben, wofür sie persönlich verantwortlich waren und hören sich deren Erlebnisse an? Warum interessiert sie das Leben eines KZ-Überlebenden mehr als das eines KZ-Wächters, wenn letzterer ein Teil ihrer eigenen Familiengeschichte sein könnte?

Betroffenheit als Show

Familien von Verbrechern müssen meist die Stadt verlassen. Kinder wechseln die Schulen, Partner lassen sich scheiden und beginnen an anderen Orten ein neues Leben mit einem neuen Namen. Dafür gab es nach dem Krieg keine Notwendigkeit. Niemand fühlte sich als Verbrecher und genauso reagieren bis heute ihre Kinder und Enkel, als gehe sie das alles eigentlich nichts an. Betroffenheit ist zur Show verkommen über die das Schicksal der ‚Anderen‘. Man trauert mit den Nachkommen der Opfer, ohne die Betroffenheit zu erleben und auch zu zeigen, selbst Nachkomme der Täter zu sein.

Erzählt werden meist die Ausnahmen. Beschrieben und dokumentiert die wenigen, die vielleicht den Wehrdienst verweigert haben oder nicht bei der Partei waren. Wie oft konnte ich in den Medien von Politikern lesen, die stolz erklärten, dass ihre Väter/Großväter eben keine Nazis waren.

Kein einziger jedoch, der mit der gleichen Erschütterung bei seinem Auftritt während des Holocaust-Gedenktages erzählt, sein Großvater sei bei der SS gewesen. Und es würde ihn bis heute beschäftigen, er könne nicht verstehen, wie ein Familienmitglied zu solchen Handlungen fähig sein konnte. Warum spricht nicht ein einziger Redner, eine einzige Rednerin bei den vielen Feierlichkeiten über den Unterschied von ihm/ihr selbst zu seinem/ihrem Vorfahren?

Man sollte sie nicht pauschal verurteilen, das wäre ein Vorurteil wie jedes andere. Viele der Nachkriegsgenerationen haben ihre Eltern konfrontiert mit der Frage: Was hast du damals getan? Doch in der Öffentlichkeit wurde und wird darüber nicht gesprochen und die Verzweiflung über die Täter in der Familie wird überdeckt von der Trauer über die Opfer.

Dabei läge hier der einzig überzeugende Ansatz für das: NIE WIEDER!

Lasst nicht die Opfer sprechen, die sich kaum noch erinnern können. Hört auf mit dem larmoyanten Getue, wie sehr ihr euch schuldigt fühlt, wie sehr ihr die Opfer bedauert, betrauert und den Toten nachweint. Das ist auch schon öfters daneben gegangen. Zum Beispiel, wenn der Verlust von Künstlern und Wissenschaftlern beklagt wird, als wären der ermordete Schuster und der Schneider ‚wertlos‘.

Trauern können wir Juden besser als ihr. Wir trauern seit Jahrtausenden, nach einem Pogrom und nach dem nächsten. Wir Nachkommen der Opfer sind keine Opfer, auch wenn wir mit Opfern aufgewachsen sind. Heute gibt es Israel, das sich verpflichtet hat, keinen Holocaust mehr zuzulassen. Die israelischen Kampfflugzeuge über Auschwitz geben uns mehr Sicherheit als alle Holocaust-Gedenktage, alle weinerlichen Versicherungen und mitleidserregenden Reden zusammen.

Euer eigener Gedenktag

Aber wie steht es mit euch? Seid ihr, Kinder und Enkel der Täter, auch so sicher, dass es sich nicht wiederholen wird? Woher nehmt ihr diese Sicherheit und Überzeugung? Habt ihr aus den Erfahrungen der Täter gelernt, versteht ihr heute die Motive der Täter von damals? Warum eine Gesellschaft, die Goethe und Beethoven hervorgebracht hatte, plötzlich einem Himmler und Göring nachlief? Habt ihr euch mit der Geschichte der Täter so intensiv beschäftigt wie die Nachkommen der Opfer mit ihren Vorfahren?

Die Verhinderung eines neuen Holocaust ist in erster Linie Aufgabe und Verantwortung der Nachkommen der Täter und nicht der Opfer. Die Holocaust-Gedenktage haben sicher ihren Sinn und sollten auch fortgesetzt werden. In Israel steht der gesamte Verkehr still und das ganze Land denkt für einen Moment an nichts anderes.

Dennoch, das reicht einfach nicht. Die Generationen nach den Nationalsozialisten haben eine Verantwortung und diese braucht auch einen speziellen Gedenktag. Schafft euch daher euren eigenen Gedenktag!

Ich hätte auch einen Vorschlag: den 1. Juni 1962 – die Hinrichtung von Otto Adolf Eichmann.

Dieser Tag hat eine wichtigere Bedeutung für die Nachkommen der Täter als die Befreiung von Auschwitz – jene sollten neben den Juden vielleicht noch die Russen feiern, die es befreit haben.

Seid betroffen und erschüttert an diesem Tag. Darüber, wie aus einem einfachen Arbeiter der Oberösterreichischen Elektrobau AG ein machtvoller Massenmörder werden konnte, der über Tod und Leben von Millionen Menschen entscheiden konnte.

Und schwört den nächsten Generationen, dass ihr die Familientradition der Täter verweigert und aus den Geschichten der Vorfahren lernen konntet, wie man sich gegen solche Entwicklungen stellt. Dass ihr heute versteht, warum sich eure Vorfahren so verhalten haben und der Welt erklären könnt, warum ihr anders seid. Eine Verurteilung und Distanzierung alleine wird nicht genügen. Erst das Verständnis für das ‚warum‘ kann eine Wiederholung verhindern.

Erst dann wird das NIE WIEDER überzeugend klingen!

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER!

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications

2 comments

  • „… er sei nur einfacher Soldat an der Front gewesen.“
    Mein Vater war tatsächlich nur ein einfacher Soldat an der Front, ein 17-jähriger, der sich von der Kriegsbegeisterung seiner älteren Freunde mitreißen ließ. Für seine Naivität hat er mit einem Kopfschuss, dem Verlust eines Auges und Splittern überall im Körper bitter bezahlt.
    Meine Mutter war zu jung um viel mitzubekommen, während des Krieges war sie in einem Internat, saß bei Luftangriffen zitternd im Keller und hatte gleichzeitig Angst um ihren Bruder, der nach Russland geschickt worden war.
    Beide hatten gelitten, beide wollten nicht über ihre Erlebnisse detaillierter sprechen.
    Eine Verwandte, die „Halbjüdin“ war, hinterließ uns ihre Memoiren, aber „darüber reden” wollte sie zu Lebzeiten nicht.
    So viel Unrecht müsste doch in die Welt geschrien und laut angeprangert werden, dachte ich.
    Offenbar sehen das viele Betroffene anders.

  • Werter Herr Sichrovsky,

    ein toller Artikel. Leider ist es zunehmend (!) unmöglich, sich dieser Thematik zu nähern, wenn man das nicht von einer Richtung tut, die zumindest früher als eindeutig linksextrem gegolten hätte.

    Einer meiner Großväter wurde im KZ ermordet, die ganze Familie des anderen von den Kommunisten. Wer immer behauptet, der Holocaust wäre das schlimmste Verbrechen gewesen, das es in der Geschichte der Menschheit gegeben habe, ist meiner bescheidenen Meinung nach entweder ein Irregeführter oder – falls es wider besseren Wissens gesagt wird – ein Arschloch. Der sogenannte Antifaschismus wird immer schriller und hysterischer eingefordert.

    Würde ich diese Aussagen als Politiker äußern, könnte ich mich 5 Minuten später von allen Ämtern verabschieden. Wenn sogar der Bundespräsident sich berufen fühlt, Drohungen gegen eine Partei auszustoßen, weil einer ihrer Funktionäre möglicherweise eine grausliche Liedzeile gesungen hat, bedeckt das Nazi-Eck bereits fast die gesamte verfügbare Fläche. Da bleibt für Vernunft einfach kein Platz mehr.

    Wie soll unter diesen Umständen ein auch nur halbwegs sinnvolles Herangehen an die Thematik vorstellbar sein? Mir fällt dazu nichts ein. Ihnen?