DER FALSCHE JUDE

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Ein Abenteuer in Tel Aviv

Ihr Hände suchten einander in dem verdunkelten Raum. Während er auf die Toilette ging, zog sie die Vorhänge zusammen, sodass in der Mitte kein Spalt mehr frei war, und das Licht der Straße das Zimmer nicht erreichen konnte. Als er aus dem Bad kam, bat sie ihn, auch das Licht im Badezimmer abzudrehen, und als er scherzte, er würde sie im Dunkeln nicht finden, lachte sie und sagte, er solle einfach ihrer Stimme folgen.

Ein paar Stunden zuvor saßen sie im Flugzeug nebeneinander von Wien nach Tel Aviv. Es sei ihre erste Reise nach Israel, erzählte sie. Aus einem stramm deutschnationalen Elternhaus kommend, war es ihr nie in den Sinn gekommen, dieses Land zu besuchen, bis sie eines Tages einen Arbeitskollegen hatte, der aus einer jüdischen Familie kam und mit ihr über seine Vergangenheit sprach. Das machte sie neugierig und auch mutig genug, diese Reise zu wagen. Eigentlich hätte es eine Reise mit ihrem Ehemann sein sollen, der jedoch absagen musste wie schon oft zuvor, wegen eines Termins irgendwo in der Welt. So entschloss sie sich, allein zu fahren.

Dreieinhalb Stunden plauderten sie im Flugzeug über ihre Vergangenheiten und auch seine Arbeit in einer internationalen Consulting-Agentur mit einem Büro in Tel Aviv, und als sie sich nach der Landung verabschieden wollten und herausfanden, dass sie auch noch im selben Hotel wohnen würden, stand dem Abenteuer der beiden Verheirateten nichts mehr im Wege. Es passierte, was passieren musste, ein Abendessen, ein paar Gläser Wein, die zweideutigen Scherze und das verdunkelte Zimmer waren eine logische Konsequenz der Ereignisse.

Schon während des Fluges fragte sie ihn nach seiner Familie, ohne jedoch über ihre eigene zu sprechen. Jede Einzelheit interessierte sie, wo seine Eltern, Großeltern herkamen, ob und wie sie überlebt hatten, was das Judentum für ihn bedeute, und ob er einen Unterschied zu nicht-jüdischen Familien und Freunden sehe.

Er blickte sie immer wieder an während er sprach, wie sie mit ihren großen, hellen Augen und dem erstaunten Gesicht auf seine Erzählungen reagierte, und obwohl er sie beim Einsteigen kaum beachtet und weder etwas Schönes noch Faszinierendes in ihrem Gesicht entdeckt hatte, gefiel sie ihm immer besser, je aufgeregter sie auf seine Geschichten reagierte. 

Später im lichtlosen Zimmer fand er das Bett, weil er sie ihm mit ihrem Lachen den Weg wies, kroch unter die Decke, und das verbotene Spiel begann, bis sie ihn plötzlich vorsichtig von sich stieß und an den Rand des Bettes rückte.

»Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht?« Fragte er sie. Ein oder zwei Minuten sagte sie nichts. »Wir können uns auch einfach unterhalten, niemand zwingt uns zu irgend etwas«, versuchte er die Situation zu retten.

»Bist du überhaupt Jude?« Fragte sie plötzlich und er musste lachen und sagte: »Warum fragst du mich das?«

»Du bist nicht einmal beschnitten! Ich glaube, du hast mir etwas vorgemacht, um mich ins Bett zu bringen. Du bist ein ganz normaler Wiener, so wie ich!« Sie wurde laut und schien sich zu ärgern.

»Meinst du das ernst, oder ist das ein blöder Spaß?« Fragte er sie.

»Ich finde das nicht lustig, was du hier machst!« Sagte sie und zischte mehr als dass sie sprach.

Auch er wich jetzt zurück, setzte sich auf, schob die Polster hinter seinem Rücken zusammen, suchte nach dem Schalter der Leselampe neben dem Bett und drehte das Licht auf. Er sah ihr verschrecktes Gesicht und entdeckte plötzlich eine Hässlichkeit, die ihm bisher verborgen geblieben war. Wie komme ich hier wieder raus, dachte er und überlegte gleichzeitig, was er ihr antworten sollte.

»Ich bin eben nicht beschnitten. Meine Eltern wollten das nicht. Sie kamen nach dem Krieg aus England nach Wien und hatten Angst, dass ihre Kinder erkannt werden könnten, irgendwann einmal, in einer ähnlichen Situation wie die, die sie erlebt hatten«, sagte er leise und ärgerte sich, dass er sich hier auch noch verteidigen müsse.

»Das kannst du doch jemanden andern erzählen, alle Juden sind beschnitten. Das ist doch wie ein Gesetz bei denen. Du machst mir doch was vor, spielst den Juden hier!« Auch sie rückte zurück und saß jetzt aufrecht im Bett.

»Den Juden spielen … das ist etwas Neues, das hat mir noch nie jemand vorgeworfen.« Er sprach mehr zu sich selbst und begann plötzlich zu lachen. »Bist du jetzt enttäuscht?« Fragte er sie plötzlich.

»Was heißt enttäuscht, so kann man das nicht sagen. Verwundert vielleicht, ich weiß nicht, vielleicht doch ein wenig enttäuscht«, antwortete sie und suchte auch den Schalter der Lampe neben dem Bett. Die Dunkelheit störte sie plötzlich. 

»Wolltest du einen richtigen Juden im Bett, noch dazu mitten in Tel Aviv? Was für ein Erlebnis für die Freundinnen am Samstagnachmittag im Kaffeehaus!« Er sprach jetzt lauter, stieg aus dem Bett und suchte nach seiner Unterhose.

»Das ist doch Blödsinn, jetzt rede dich nicht aus. Du hast mir etwas vorgespielt. Deine ganze Familiengeschichte ist wahrscheinlich ein Märchen!« Sagte sie und begann auf ihrem Mobiltelefon etwas zu suchen, das auf dem kleinen Tisch neben dem Bett lag.

Er hatte seine Unterhose gefunden, seine Socken und sein Hemd, seine Hosen und den Gürtel, raffte alles zusammen und ging wortlos in die Toilette. 

»Du bist wirklich das Letzte!« Hörte er sie durch die geschlossene Tür zum Bad. Doch er antwortete ihr nicht. 

Er zog sich langsam an und eine unendliche Traurigkeit überkam ihn. Angezogen saß er am Rand der Badewanne und dachte an seine Eltern. Ihre ständigen Ängste nach dem Krieg, ihre Versuche, das Judentum zu verheimlichen, zu verbergen, jede Spur zu verwischen. Den Kindern die religiöse Tradition zu verweigern, keine Synagogenbesuche, keine jüdischen Feste und keine jüdischen Jugendorganisationen. 

Er und seine Brüder mussten normale Österreicher werden. Die Ursache für Verfolgung, Vertreibung und Mord sollte nicht mehr existieren. Sie wollten ihre Kinder retten, auch wenn es keinen Grund dafür gab, und sie vorbereiten für eine Wiederholung der Katastrophe, die sie erleben mussten und die garantiert wiederkommen würde. Er konfrontierte sie später, als er erwachsen war, und ihm die jüdische Erziehung fehlte, das Verständnis für seine eigene Kultur und Tradition. Doch was konnte er Menschen vorwerfen, deren Entscheidungen von Angst geprägt waren.

Dann hörte er, wie sie die Tür vom Hotelzimmer öffnete und sie mit einem lauten Knall hinter sich schloss. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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