50 THESEN

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zur transzendentalen Neudeutung der Welt

Nach 500 Jahren kommen die besten Ideen an ihr Ende. Feiern hilft nichts: Was es braucht, ist eine neue Idee. Im Fall von Luther, der den christlichen Kerngedanken von der Göttlichkeit des Menschen dem Klammergriff der Kirche entriss, und ihn in die Hände der Gläubigen zurücklegte, bedeutet das, den Kerngedanken fortzuentwickeln – und dazu jeglichen Glauben fahren zu lassen.

Von nun an geht es darum, zu wissen statt zu glauben! Was immer wir bislang religiös angenommen haben, kam nicht vom Himmel und sonst welcher göttlichen Instanz. Es kam von uns, entstammte der Tiefe des menschlichen Geistes und macht sich jetzt auf den Weg, ins Bewusstsein zu gelangen. Denn nur dort kann es ohne Mummenschanz, ohne Übervater und andere Autoritätsdarsteller seine eigentliche transzendentale Wirkung und Bedeutung entfalten.

Die folgenden 50 Thesen skizzieren die Grundzüge einer auf den Menschen bezogenen, von ihm ausgehenden, in ihm wirkenden, freien Transzendenz, die nichts anderes ist als ein für jedermann offenes, atemberaubend dynamisches Netzwerk aus Wahrnehmen und Gestalten.

  1. Es gibt nur eine Wahrheit, unteilbar, in allem, das ist. Sie wirkt im Einzelnen wie insgesamt.
  2. Wahrheit ist Seinsgrund von allem und sich selbst. Alles, das ist, wird an ihr sichtbar.
  3. Wahrheit wirkt aus dem Gesamten heraus und aus dem Einzelnen. Alles Einzelne und das Gesamte bilden die Wahrheit.
  4. Alles, das ist, hat Wahrheit. Nichts, das ist, kann ohne Wahrheit sein.
  5. Wahrheit ist zugleich Sinn und Substrat. Sie ist erkennbar, fühlbar, wissbar – und erfahrbar.
  6. Das Einzelne ist wahr, wenn es insgesamt wahr wird. Das Gesamte ist wahr, wenn es im Einzelnen wahr wird.
  7. Wahrsein ist höchste Übereinstimmung mit dem Selbst, im Einzelnen wie insgesamt. Jede andere Übereinstimmung mit sich selbst ist Wahrwerdung.
  8. Selbstsein ist potentielles Wahrsein. Wahrwerdung und Wahrsein spiegeln dynamische Zustände des Selbst.
  9. Alles, das existiert oder geschieht, ist Teil der Wahrwerdung. Es gibt im Geschehenden und Tatsächlichen nichts eigentlich Falsches.
  10. Fehler, die im Zuge der Wahrwerdung offenbar werden, sind Brechungen der Wahrheit. Es sind Verirrungen im Einzelnen in Bezug aufs Gesamte oder Verirrungen im Gesamten in Bezug aufs Einzelne.
  11. Je wahrer etwas ist, desto ungebundener ist es – und wird umso seltener offenbar. Je öfter etwas sich offenbart, desto irriger, faktischer oder gebundener ist es.
  12. Das Faktische existiert nicht an sich. Es ist Ausdruck übergeordneter Zusammenhänge und transzendentaler Dynamik.
  13. In der Sphäre des Faktischen transzendieren sich im Vorhinein mögliche Wahrwerdungen. In ihnen offenbart sich der Scheideweg zwischen Gebundenheit und Loslösung.
  14. Die Transzendenz des Faktischen ist ein demiurgisches Prinzip. In ihr ist ein dialogischer Raum eröffnet, den es zur Wahrwerdung im Einzelnen wie insgesamt braucht.
  15. Alles tatsächliche Geschehen birgt einen Hinweis auf transzendentalen Hintergrund. Ihn im Faktischen zu erkennen, steigert die transzendentale Dynamik – ihn zu verkennen, verlängert den Prozess der Wahrwerdung.
  16. Was tatsächlich geschieht, ist nur zum Teil ursächlich für irgendein weiteres Geschehen. Alles, das im Weiteren geschieht, ist zugleich Teil übergeordneter Zusammenhänge, die sich im Folgegeschehen faktisch immer neu transzendieren.
  17. Zufälle an sich gibt es nicht. Je stärker die transzendentale Dichte von Geschehnissen ist, desto eher erschließt sich ihr zwingender Zusammenhang.
  18. Die umso größere Seltenheit der Offenbarung bei umso größerer Wahrwerdung entspringt derselben Wurzel wie umso größere transzendentale Dichte. Aus demselben Verhältnis von Gebundenheit und Loslösung schöpft der Zustand des Selbst.
  19. Im Tatsächlichen, Faktischen sind Verirrungen elementarer Teil der Wahrwerdung. In der Transzendenz des Faktischen werden sie potentiell eliminiert.
  20. Götter oder Gott an sich gibt es nicht. Wahrheit als transzendentaler Träger und Sinnstifter ist kein handelndes, jenseitiges Etwas, sondern ein omnipräsentes, tatsächliches Seinsprinzip, dessen dynamische Vielschichtigkeit transzendentale Dimension hat und Jenseitigkeit vorspiegelt.
  21. Erkennen bedeutet, Wahrheit im Tatsächlichen zu erfassen. Erkenntnisse im Einzelnen wie insgesamt sind Teil des Prozesses der Wahrwerdung.
  22. Alles Erkennen bezieht seinen Impuls aus der Transzendenz des Faktischen, aus voranschreitendem Eintrag von Wahrheit im Tatsächlichen. Erkennen tendiert, im Einzelnen wie insgesamt, zur Auflösung des Faktischen.
  23. Erkenntnisse sind auf drei Wegen zu erlangen: denen des Fühlens, des Denkens und des Wissens. Alle drei stellen elementare, voneinander unabhängige Annäherungen an die Wahrheit dar.
  24. Im Fühlen überwiegt der Zugriff auf Faktisches, im Denken der Zugriff auf Dynamisches, im Wissen der Zugriff auf Zusammenhänge. Jeder der drei Wege ist für sich vollgültig zu beschreiten.
  25. Gebete und andere spirituelle Techniken der Versenkung oder göttlichen Anrufung suchen die drei Wege zu vereinen, indem sie das Einzelne, das Gesamte und das Selbst transzendental aufeinander beziehen. Erkenntnisse der Wahrheit im Tatsächlichen haben diese Einheit auf jedem der Erkenntniswege zur Voraussetzung.
  26. Erkenntnisse greifen, im Einzelnen wie insgesamt, unmittelbar in die Wahrwerdung ein. Das bedeutet transzendentale Steigerung ohne Effizienzverlust, wie er beim Umweg der Anrufung von Gott oder Göttern entsteht.
  27. Die Steigerung verändert zugleich das Erkannte und noch zu Erkennende. Erkenntnisse sind infolgedessen rein auf die Zukunft gerichtet und haben keinen Vergangenheitswert.
  28. Im Vergangenen wurzeln nur Hinweise auf Erkenntnisse. Der Grund für alles Sein liegt in der Zukunft, die per Transzendenz des Faktischen sichtbar die Gegenwart strukturiert.
  29. Alles Erkennen speist sich aus Wahrheit, zielt auf Wahrheit und reichert sie dynamisch an. Erkennen ist selbstreferentielle Wahrheit, im Einzelnen wie insgesamt.
  30. Sämtliche Sinneswahrnehmungen sind Wahrheitsentsprechungen. Sinneswahrnehmung ist das demiurgische Gegenstück zur Transzendenz des Faktischen.
  31. Alles Lieben gründet auf Wahrheit und lebt von Wahrheit. Lieben und Erkennen sind umgekehrte Aspekte desselben Wirkprinzips.
  32. Liebe ist Steigerung des Selbst über sich hinaus. Sie vollzieht den Austritt aus dem eigenen und das Eintauchen in ein anderes Selbst.
  33. Verliebtheit ist Selbstliebe. In ihr steigert sich das Selbst nicht, sondern öffnet sich potentieller Wahrwerdung.
  34. Liebendes Erkennen ist sich einfindende Wahrheit im Einzelnen. Erkennende Liebe ist sich vollziehende Wahrheit im Gesamten.
  35. In Liebe bereitet sich reines Sein vor. Je höher der Verschmelzungsgrad des Selbst ist, desto mehr offenbart es sich.
  36. Reines Sein ist ins Leben getragene, völlige Wahrheit. Nur in gelebter Liebe ist Wahrheit vollendet fühlbar, wissbar und erfahrbar.
  37. Gelebte Liebe ist sinnhaftes und bildliches Wahrwerden des Einzelnen im Gesamten. Geburten sind sinnhaftes und bildliches Wahrwerden des Gesamten im Einzelnen.
  38. Liebe zeugt sich aus Wahrheit und erzeugt Wahrheit. In ihr offenbart die Transzendenz des Faktischen die kürzesten Wege.
  39. Liebe, Erkennen und Sprache bilden die drei Säulen von Wahrheit. In ihnen erweist sich Wahrheit als Seinsgrund von allem und sich selbst.
  40. Liebe ist der Schlüssel, der Wahrheit faktisch aufschließt, Erkennen der Schlüssel, der Wahrheit dynamisiert. Sprache ist der Schlüssel zum wahren Zusammenhang.
  41. Sprache ist Mitte und Spiegel von allem. Nichts, das ist, existiert ohne sie.
  42. Alles Sprachliche ist Figur. Es erschafft Abbilder in Sinn und Struktur und transportiert ihre doppelte Bedeutung.
  43. Sprache ist Widerschein reinen Seins. In ihrer sinnentwickelten und sinnentwickelnden Struktur wird der seiende und werdende Aspekt von Wahrheit punktgespiegelt.
  44. Sprache ist dreifacher Zusammenhang. Sie verknüpft sinnhaft Abbilder und Bedeutung, öffnet sie dem Erkennen wie der Transzendenz des Faktischen und vermittelt zwischen Wahrwerdung und Wahrheit.
  45. Definitionen gelten nicht an sich. Indem etwas sprachlich festgehalten wird, wandelt es sich und steht in neuem dreifachem Zusammenhang.
  46. Geist und Materie sind in Sprache bildhaft vereint. In der Transzendenz des Faktischen entfaltet ihr Eins-Sein Dynamik.
  47. Alles Sein strebt zu Sprache und Sprachverfeinerung hin. Ziel ist ein Zugewinn an geistig-materieller Identität.
  48. Die Magie der Sprache schöpft aus der transzendentalen Steigerung sprachlich gewonnener Identität. Sie ist Abglanz des Mysteriums der Wahrheit.
  49. Sprachlich vermittelnd betreibt Wahrheit im Einzelnen wie insgesamt die Wesenseinheit von Struktur und Chaos, Gefühl und Intellekt, Form und Inhalt, Geist und Materie, Subjekt und Objekt. Aus der Fülle der Auflösung von Gegensätzen schöpft ihr Mysterium.
  50. Mittels Sprache erweist sich der Mensch als mystisch wahres Wesen. Aus Geistern wurden Götter, aus Göttern wurde Gott, aus Gott wurde der Menschensohn Gottes, dem der Mensch als transzendentale Mitte und transzendentaler Mittler folgt.

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Über den Autor / die Autorin

Alexander Gusovius

Alexander Hans Gusovius ist Schriftsteller und Philosoph. Seine Grundüberzeugung: „Nichts geschieht zufällig, ohne deshalb vorherbestimmt zu sein.“ Seine Grundhaltung: „Freiheit ist das höchste Gut von allen.“ Er ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Schwarzer Hut“ und mit dem Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim verbunden. Seine Artikel erschienen bisher in der WeLT, im Schweizer Monat, in MAXIM und in Novo Argumente. Zu seinen Büchern geht es auf www.alexander-gusovius.de.