2020

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© La Linea

Versuch einer Beschönigung

Das kann keine einfache Aufgabe sein, das Gute in diesem Jahr zu entdecken, dessen Ende von den meisten gefeiert wird in Erwartung eines besseren 2021. Mit der plötzlichen Veränderung beginnend im März, als der gewohnte Alltag gewaltsam genommen und ein ungewohnter aufgezwungen wurde und uns völlig unvorbereitet traf. Hier der Versuch eines positiven Rückblicks:

Reisen

Die erste positive Veränderung betraf das Reisen. Noch vor dem totalen Zusperren wurden wir vorsichtig und zögerten, die als normal empfundene Beweglichkeit fortzusetzen. Das beendete meine quälende Verpflichtung, täglich nach günstigen Flügen und Hotels zu suchen, nach Sonderangeboten für Kreuzfahrten, ›Last Minute Package Deals‹ und Airbnbs, die Preisnachlässe gewähren. Damit endeten auch – noch bevor es verboten war, andere zu besuchen – die ach so spannenden Gespräche mit Bekannten und Freunden, die einem bei jedem gemeinsamen Abendessen stolz berichten, wo sie wann waren und sein werden, und wie preisgünstig sie die letzte Flucht vor der tödlich langweiligen Eintönigkeit organisieren konnten. 

Diese aufregenden Unterhaltungen verschwanden von einem Tag zum anderen. Keine Prahlerei mehr mit welcher Geschicklichkeit ein Flug von Wien nach London um 19 Euro gefunden wurde, und trotz der Buchung des billigsten Zimmers in einem Luxushotel – weil man eben so clever ist – ein Upgrade mit exakt gezielter Argumentation an der Rezeption ergattert zu haben. Als geübter Reisender und Kenner der Mentalität einfacher Hotelangestellter weiß man eben, wie man mit ihnen sprechen muss, wird mir dann immer erklärt. 

Ich wusste nie, wie ich auf solche Berichte reagieren sollte. Den Erzähler bewundern oder ihm versichern, dass ich einfach blöder sei als er, meist den vollen Preis bezahle und noch nie um 19 Euro nach London geflogen sei.

Auch erzählte mir niemand mehr, er habe in einer dieser besuchten Städte, die voll von Touristen wären, ein Restaurant gefunden, das niemand kennen würde, dort sei man unter lauter Einheimischen gesessen und habe gegessen, was die anderen bestellten, die dort leben würden und kein Ausländer sei in dem Lokal gewesen. Reisende lieben es, ihre leidenden Zuhörer mit ihrer Geschicklichkeit zu beeindrucken, die sie von allen anderen abhebt, weil grundsätzlich andere, wenn als Touristen unterwegs, ungeschickt, ahnungslos und einfach dumm sind.

Wandern und Essen

Neben der Erholung von erzählbaren Abenteuern veränderte sich auch mein soziales Leben. Ich entdeckte einen ehemaligen Studienkollegen, der in der Nähe von mir wohnt. Ein mürrischer, pensionierter Professor, der in seiner interessanten, kreativen Gedankenwelt lebt, immer noch aktiv mit neuen Ideen. Um dieser gedanklichen Freiheit einen gewissen Freiraum zu ermöglichen, organisiert er seinen Alltag wie ein Unteroffizier, der in einer Kaserne lebt. Mit einem genau strukturierten Tagesablauf und einem Platz für seine Hauschuhe, der durch nichts besetzt oder blockiert werden darf. Ebenso periodisch und wiederholend gestalten sich seine Spaziergänge auf demselben Weg zur selben Zeit, egal ob es regnet, schneit oder die Sonne herunterbrennt mit einer Regelmäßigkeit, als ob er lange vor dem Lockdown dafür geübt hätte.

Seit der verordneten, reduzierten Beweglichkeit gehe ich oft mit ihm, zwei bis dreimal die Woche, denselben Weg, zur selben Zeit mit derselben Geschwindigkeit, einen Schritt nach dem anderen und überlege mir manchmal, ob uns vielleicht die Bäume am Rand des Weges eines Tages begrüßen. Manchmal nehme ich unseren Hund mit, der meinen wieder entdeckten Kollegen begeistert als neuen Freund begrüßt, und dieser erstaunt reagiert, dass überhaupt ein lebendiges Wesen auf ihn freudig reagieren könnte.

Da ich für den Platz seiner Hausschuhe nicht verantwortlich bin, erlebe ich nur die kreative Seite des Herrn Professors, die nur manchmal durch andere Spaziergänger unterbrochen wird, deren Anwesenheit auf den Wiesen und Wegen er mit Empörung kommentiert.

Mit einem anderen Freund, der ebenfalls nicht weit von mir wohnt, entwickelte sich eine kulinarische Regelmäßigkeit. Wir essen einmal pro Woche ein Backhuhn mit Salat und Suppe, das er sich von seinem Lieblingsrestaurant bringen lässt, wo wir uns früher oft mittags trafen. Manchmal bringt er das Mittagessen zu mir. Auch mit ihm setzt sich diese Sucht nach Wiederholung durch, bei der jede Abweichung, ob zeitlich oder vom Menu her irritierend und störend erlebt wird. Nach dem Backhuhn reden wir über Bücher, meine Artikel, die kürzlich erschienen sind, und über interessante und gewinnversprechende Geschäftsideen, die allerdings nie realisiert werden. Doch vor allem sprechen wir über Menschen, die wir beiden kennen und jetzt nicht mehr treffen können und im Grunde genommen auch nicht treffen wollen, oder zumindest nicht vermissen. Es ist ein sozusagen durchaus wienerisches Vergnügen. 

Besonders beeindruckend – beginnend mit der Schließung der Restaurants – waren die Folgen auf das Leben in meiner Wohnung. Unsere Küche entwickelte sich zu einem wunderbar riechenden und stets dampfenden Laboratorium, mit laut klappernden Tellern und Töpfen, in dem neue Rezepte probiert werden und das tägliche Abendessen zu einer Verkostung mehrgängiger experimenteller Menüs veränderte. Keine Ecke der Welt wurde da ausgelassen mit ihren nationalen Gerichten, Gewürzen und Rezepten. Von der japanischen Hühnersuppe bis zum spanischen Apfelkuchen, einem indischen Reisauflauf und libanesischen Wurst-Eintopf wurde alles ausprobiert. Auch das Einkaufen von Lebensmitteln hat sich verändert. Da der Supermarkt das einzig öffentliche Gebäude ist, das ich betrete, üblicherweise ziemlich ahnungslos vor der Fülle der Käsesorten stehe, und immer den gleichen kaufe, nahm ich mir diesmal vor, sie alphabetisch durchzukosten. Mit Dezember bin ich etwa bei der Mitte des Alphabets und habe daher noch einige Monate Zeit, bis der Lockdown mich zum ›Z‹ wie zum Beispiel ›Ziger-Käse‹ zwingt, einem Frischkäse aus der Schweiz, der angeblich ähnlich dem italienischen Ricotta schmeckt. 

Schreiben

In diesem Jahr bekam ich die Möglichkeit, wieder publizistisch tätig zu werden. Ein Wochen- und ein Monatsmagazin luden mich ein, regelmäßig Beiträge zu veröffentlichen und eine Online-Publikation, die schon Jahre zuvor meine Geschichten brachte. Unruhe, Zweifel und Nervosität beim Schreiben und Begeisterung, immer überladen mit Unzufriedenheit beim Lesen der veröffentlichten Texte, dominierten die einzelnen Wochentage und der Zwang, Publikationstermine einzuhalten, drängten mich als Pensionist zurück in ein Arbeitsleben, das die bedrückende Stille des Lockdowns manchmal verdrängten. Ein gewisses ›Funktionieren-Müssen‹ ließen mich geschlossene Restaurants, Cafés und Tennisplätze vergessen. Texte mussten zeitgerecht geliefert werden, ob sie gelesen werden, ist ein anderes, nicht so wichtiges Problem. Ich kam mir vor wie der Wächter eines Friedhofs, der morgens und abends pünktlich die Tore verschließen müsse, obwohl es Besuchern nicht gestattet war, die Gräber zu besuchen und höchstens die Toten daran hinderte, nachts zu entkommen. 

Das war’s

Das war’s dann schon, viel mehr fällt mir nicht ein, um den Abschluss dieses Jahres zu beschönigen, denn es waren verdammt schwierige Monate, und das betrifft auch die noch kommenden. Besonders unangenehm waren und sind mir Menschen in diesen schwierigen Zeiten, die mir versichern, dass ihnen das alles nichts ausmache, sie selbstzufrieden und glücklich immer einen Weg finden würden, mit den noch so schwierigen Problemen fertig zu werden und es ihnen unverständlich ist, warum das andere nicht könnten. Dann kommt meist eine Aufzählung von Aktivitäten, Hobbys und Beschäftigungen, die angeblich das Leben in eine neue Normalität verschoben hätten, die sich von der alten kaum unterscheide. 

Ich kann nicht beschönigen oder das zertrümmerte Leben neu zusammensetzen, und so tun, als ob es genau aussehe wie zuvor. Ich versteh zum ersten Mal die Worte der älteren Generation, die mir früher unverständlich waren, wie »früher war alles besser«.

Jetzt trifft es tatsächlich zu: »Früher war wirklich alles besser!«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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