Wann war eigentlich Silvester?

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Die Hunde waren nicht das Problem im alten Jahr. Gar nicht so einfach, es loslassen und das neue willkommen zu heißen. 

»Was habt ihr zu Silvester gemacht?« Anna nimmt dem Hund die Leine ab beim Eingang zum Paula-Wessely-Weg in Grinzing, der den Waldweg durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern mit der Straße verbindet. Von hier aus geht es bergauf entlang der Weinberge bis zum Restaurant ›Oktogon Am Himmel‹, wo es Mittwoch bis Sonntag einen hervorragenden Schweinsbraten mit Kraut und Knödel gibt und eine herrliche Aussicht über Wien. Die Aussicht kann man auch jetzt genießen, wenn nicht der Nebel die Stadt in den Zustand der lautlosen Depression drückt. Der Schweinsbraten wird allerdings derzeit weder bei Nebel noch bei Sonnenschein serviert.

Sonja beginnt zu lachen. »Was wir zu Silvester gemacht haben? Meinst du das ernst?«, fragt sie. Auch sie hat ihrem Hund die Leine genommen. Die beiden Freundinnen gehen diesen Weg jeden Dienstag und Freitag, seit vielen Jahren. Essen dann zu Mittag in einem der beiden Gasthäuser Am Himmel, so heißt dieser Platz etwa bei der Hälfte des Weges von Grinzing bis zum Kahlenberg, und am Rückweg gönnt man sich einen Zwetschgenstrudel mit Mohn in der Konditorei am Hauptplatz in Grinzing, mit einem kleinen Mokka vor dem Kuchen, und später einen großen Braunen, um die Mohnkörner des Strudels, die zwischen den Zähnen stecken, hinunter zu spülen. 

»Wir haben ferngesehen«, sagt Anna und wirft einen kurzen Stock ein paar Meter weit weg, doch ihr Hund ignoriert ihn und trottet langsam neben ihr her. »Spannend«, antwortet Sonja, und sie lachen beide. Es ist kalt und feucht, der Nebel zeigt einen gleichmäßig grauen Himmel, wie wenn dem Maler beim oberen Teil des Landschaftsbildes alle anderen Farben ausgegangen wären. Anna zieht den Zip ihrer dunkelblauen Jacke bis hoch zum Kinn und die Wollmütze noch tiefer über die Ohren.

»Wann war eigentlich Silvester?« Fragt Sonja. Sie trägt eine enge, dunkle Hose mit Schnürstiefel, die fast bis zu den Knien reichen, einen dicken Wollmantel und eine Pelzmütze mit Ohrenklappen.

»Na, warte mal, antwortet Anna, »heute ist Dienstag, also…« Sie beginnt mit ausgestreckten Fingern zu zählen und hat dafür einen der Fäustlinge ausgezogen. »Es müsste letzten Donnerstag gewesen sein, ja, Donnerstag, weil Freitag haben wir uns nicht getroffen. Schade eigentlich.«

»Wir dachten, wir wären zu müde, nach der langen Nacht!« Sagt Anna. »Von wegen, lange Nacht… ich hab’ die Minuten gezählt, bis 2020 endlich vorbei war. Um Mitternacht wollte ich mit Walter anstoßen, das neue Jahr zu feiern, mit all den Hoffnungen, die ich mir aufgehoben hatte, für die erste Minute nach Mitternacht, wir haben eine Flasche Champagner vorbereitet. Und Walter, weißt du, was er gemacht hat?« Sonja bleibt stehen und blickend wartend auf Anna.

»Und? Sag schon?« Fragt Anna.

»Er ist um 11 Uhr eingeschlafen, lag schnarchend auf dem Sofa vor dem Fernseher und hat das Läuten der Pummerin versäumt. Sein Hemd war halb offen und die Jogginghose, die er jetzt jeden Tag trägt, weil er doch zu Hause arbeitet, war ihm etwas heruntergerutscht, so dass man den Gummirand der Unterhose sehen konnte.« Anna lacht wieder: »Toller Silvester!«

»Das Jahr hat so geendet, wie es im März begonnen hat. Ich hab’ mir Walter angesehen um Mitternacht, allein vor dem Fernseher mit dem Glas in der Hand, und dachte mir, da liegt es, das 2020, und so endet es.«

Ein älteres Ehepaar kommt ihnen entgegen, langsam bergab gehend mit Wanderstöcken, vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, eingepackt in dicke Jacken und Hauben mit schweren Schuhen, als der Mann plötzlich stehen bleibt und keuchend, nach Atem ringend, zu den beiden Frauen spricht: »Die sind…« er hustet, »die sind…«er hustet wieder, »die sind nicht an der Leine, die Hunde, das ist verboten!«

Anna und Sonja bleiben stehen, sehen einander an, beginnen zu lachen und Anna sagt: »Und du hast geglaubt, wir haben Probleme?«

»Ja lachen Sie nur,« sagt der Mann immer noch keuchend und wendet sich an seine Frau, die eher verzweifelt zu Boden blickt: »Mausi, mach a Foto, na geh schon, ich hab’ kein Handy mit!« 

Doch Mausi richtet sich die Jacke und tut so, als ob sie ihn nicht verstanden hätte. »Ja, Mausi mach ein Foto!« Sagt Anna laut, stellt sich neben Sonja und beide können sich kaum mehr aufrecht halten vor lauter lachen. »Mach eines uns beiden!«

»Jetzt gib schon her!« Sagt der Mann und streckt seine Hand aus. Die Frau greift langsam in die Manteltasche und holt ein Telefon heraus. »So, jetzt werden wir sehen, wer da noch lacht, wenn ich Sie anzeige!« Er drückt auf dem Telefon herum. »Wieso geht das nicht?« Fragt er seine Frau. 

»Wahrscheinlich hat ihre Frau einen Code,« sagt Sonja und schaut auf die Frau, die kurz lächelt, doch dann wieder zu Boden blickt.

»Meine Frau hat keinen Code, die hat noch nie einen Code gehabt,« sagt er zu Sonja und wendet sich an seine Frau: »Gell, Mausi, wir brauchen keinen Code, ich hab’ ja auch keinen!« Mausi hebt die Schultern und seufzt.

»Scheinbar hat Mausi doch einen Code…,« sagt Anna und Sonja fällt ihr ins Wort: »Ja, warum sollte Mausi keinen Code haben, nicht wahr Mausi?« Die beiden können sich kaum mehr beruhigen. Doch die Frau bleibt ernst und lacht nicht, nimmt ihrem Mann das Telefon aus den Händen, tippt ein paar Zahlen ein und reicht es ihm wieder.

Die beiden Hunde sind vergessen. Laufen im Kreis um die beiden Frauen und das alte Ehepaar, jagen einander abwechselnd mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung.

»Warum hast du dein Telefon gesperrt?« Fragt der Mann, immer noch ruhig und sich zurückhaltend. Die Hunde sind vergessen, ebenso die Leinen und die Vorschriften.

»Sagen sie es ihm doch, dass es ihn nichts angeht, ihr Telefon,« sagte Anna plötzlich und der Mann dreht sich zu ihr und wird lauter: »Mischen sie sich nicht ein! Was geht Sie das an, verschwinden Sie doch mit diesen verdammten Kötern.«

»Natürlich geht uns das was an«, sagt Sonja und geht einen Schritt vor, »so viel wie sie mein Hund angeht!«

Die Frau wendet sich an Anna: »Das hat mir der Franz, unser Enkerl eingerichtet,« und wendet sich an ihren Mann: »Ich mag’s einfach nicht, wenn du mich immer kontrollierst.« 

»Na bitte, was hab’ ich gesagt,« mischt sich Sonja ein. Die Hunde jagen einander weiter im Kreis um die Erwachsenen, die immer mehr gleichzeitig sprechen ohne einander zuzuhören, bis der ältere Mann mit dem Telefon in der Hand, ohne ein Foto gemacht zu haben, noch lauter wird und schreit: »Mir reicht’s jetzt, Sie sind das Problem hier, mit den Hunden, nicht ich oder meine Frau!«

»Problem?« Sagt Anna und wird ganz leise, »wissen Sie was ein Problem ist, dass mein Sohn nicht zu Weihnachten kommen konnte, weil er in England studiert, dass meine Tochter seit Wochen vor dem Laptop sitzt, statt normal in die Schule zu gehen, dass ich drei Kilo zugenommen habe und mein Mann unrasiert in Jogginghose mir sagt, leider an den falschen Stellen, dass er seine Arbeit verloren hat und sich als Berater durchzuschlagen versucht, dass ich meine Mutter nicht mehr besuche, weil mir jeder Angst macht, ich könnte sie umbringen, meine Freunde im Tennisklub nicht mehr sehe, mein Onkel in Südafrika verstorben ist und keiner zum Begräbnis fahren konnte, ich meine Arbeit im Schlafzimmer am Computer zu erledigen versuche und jeden Tag aufwache und mich zum Frühstück zwingen muss, weil ich schon keine Lust mehr habe, für nichts und absolut nichts mehr!«

Der Mann weicht erschrocken zurück, setzt sich seine Mütze auf und wendet sich an seine Frau: »Komm, Mausi, wir gehen lieber.« Er sucht ihre Hand, doch sie zieht sie zurück. »Gib mir mein Telefon wieder!« Er gibt ihr das Telefon und murmelt leise: »Ja, natürlich, nur komm, gehen wir endlich weiter.« Sie steckt das Telefon in die Manteltasche und sie gehen langsam weiter, Schritt für Schritt, vorsichtig den Weg bergab.

»Und? Geht’s dir jetzt besser?« Fragt Sonja. »Viel besser, jetzt bin ich das alte Jahr los und das neue hat endlich begonnen!« Antwortet Anna, und sie gehen weiter bergauf, und die Hunde folgen ihnen.

Zuerst veröffentlicht in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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