UND IMMER WIEDER GAZA

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Wenn der moralische Kompass verloren geht

Diesen Monat ging es schon wieder los! Eskalation in Gaza! Wieso kann man die da nicht endlich in Ruhe lassen? So oder so ähnlich hallte es kürzlich wieder durch die internationale Presse und soziale Medienwelt. Wenn man der Presse Glauben schenkt, ist alles sehr einfach und schnell erklärt: Ein israelisches Sonderkommando war widerrechtlich nach Gaza eingedrungen und hatte dort sieben Hamas-Aktivisten liquidiert. Dabei war auch ein hochrangiger israelischer Offizier ums Leben gekommen. Als Reaktion darauf hat die Hamas Raketen nach Israel geschickt, die israelische Luftwaffe reagierte daraufhin »mit heftigen Angriffen auf den Raketenbeschuss aus Gaza« – so schreibt zum Beispiel ARD Israel Palästina, also das ARD Studio in Tel Aviv, auf der dazugehörigen Facebook Seite.

Im Weltspiegel erklärt Mike Lingenfelser, seines Zeichens ARD-Korrespondent in Israel unter anderem: »Gleichwohl hat die palästinensische Seite diesen Zwischenfall vorgestern, wo ein israelisches Geheimkommando aufgeflogen ist und es einen tödlichen Schusswechsel gab, zum Anlass genommen, Rache zu üben, Raketen geschossen. Dann gab es den üblichen Gegenschlag der Israelis. Und so hat sich alles hochgeschaukelt.«

Der Ablauf ist also völlig klar: Die Israelis haben mit ihrem unmöglichen Vorgehen die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Gaza gefährdet, und nun widerfährt ihnen die Rache der Palästinenser.

Jürgen-»Euer JT«-Todenhöfer, der in gewissen Kreisen sehr beliebte Publizist, der sich in Gaza auskennt (vor allem im unterirdischen Tunnelsystem, durch welches er im Sommer 2014 mit all seinen hübschen Requisiten von Teddybären über Kinderwagen eben dort hin gekrochen kam, um auf einem Schuttberg zu posieren), sieht die Sache noch klarer und schreibt:

Als ein saudisches Kommando den Regimekritiker Khashoggi ermordete, empörte sich der gesamte Westen. Zu Recht!
Gestern killte ein israelisches Kommando in Gaza 7 (!) politische Gegner.
Reaktion des Westens: Null. Feiglinge.

Jürgen Todenhöfer

Und einen Tag später erklärt er uns, was ihn daran wirklich stört:

Seit März 243 getötete Palästinenser – 3 getötete Israelis.
WÄREN DIE ZAHLEN UMGEKEHRT, WÄRE IM WESTEN DIE HÖLLE LOS.

Jürgen Todenhöfer

Das »Killerkommando«

Was wirklich geschah: Ein israelisches Kommando wollte in der Nacht vom 10. auf den 11.11. tatsächlich eine geheime Militäroperation in Gaza durchführen. Das Kommando wurde entdeckt, angegriffen und es kam zu einem Schusswechsel, bei dem Nour el-Deen Baraka, Kommandant einer Brigade des militärischen Flügels der Hamas, und ein israelischer Offizier ums Leben kamen. Um den Israelis den Rückzug zu ermöglichen, so hieß es, kam die übermächtige israelische Luftwaffe zu Hilfe und tötete sechs weitere Hamas-Aktivisten. Ein israelisches Killerkommando fliegt also auf, und die Luftwaffe muss zu Hilfe eilen! War es so?

Das Ziel der Operation wurde von israelischer Seite offiziell nicht genauer definiert. Allerdings teilte man mit, es habe sich um eine geheimdienstliche Operation gehandelt, bei der es um Abhörmaßnahmen gegangen sei. Weiter deutete man an, dass die Luftwaffe eigentlich nur deshalb hinzugezogen worden sei, um das Militärfahrzeug samt Abhörtechnologie zu zerstören, da man diese nicht in die Hände der Hamas fallen lassen konnte. Dies habe allerdings zum Tod der übrigen Terroristen geführt, die im Begriff waren, die zurückgelassenen Anlagen und Gerätschaften an sich zu reißen.

Sofort tönte es in den Medien und den Kommentarspalten von »nachgeschobenen Gründen«. Das sei Pinkwashing eines Killerkommandos, und überhaupt: es zeigt nur die Strategie der israelischen Hasbara-Trolle. Dabei hätte der gesunde Menschenverstand (sofern man ihn denn hat) und ein klein bisschen Recherche (sofern es einen wirklich interessiert) bei der Einschätzung des Sachverhalts durchaus hilfreich sein können. Nour Baraka war nämlich nicht irgendwer. Er war verantwortlich für das Terrortunnelsystem um Khan Yunis. Vielleicht war »Euer JT« ihm deshalb auch persönlich sehr verbunden, man weiß es nicht.

Jedenfalls konnte in den müßigen Diskussionen in den sozialen Netzwerken niemand erklären, weshalb die Israelis eine derart wertvolle Informationsquelle bezüglich Standort, Länge, Absicherung und Inhalt von hunderten von Terrortunneln liquidieren sollten. Und wenn doch, warum sie dies dann nicht aus der Luft durchgeführt hätten. Man wusste ja, wo Nour Baraka zu finden war. Ein Knopfdruck, ein großer Knall und Ende. Stattdessen riskierte man das Leben von Menschen aus eigenen Reihen? Mal ganz abgesehen von den Informationen, die man nun nie mehr bekommen würde? Auch für die Vermutung, es habe sich um einen gescheiterten Entführungsversuch gehandelt, finden sich keinerlei Anhaltspunkte. Wozu wären dann die Abhöranlagen gut gewesen?

Dumm nur für die selbsternannten Experten, dass Khalil al-Hayya, ein hochrangiger Hamas-Offizier, im Al-Aqsa TV der Hamas inzwischen genau das bestätigt, was die israelische Seite hat verlautbaren lassen. Es sei eben kein Killerkommando gewesen, sondern laut al-Hayya »der gescheiterte Versuch einer groß angelegten Abhöraktion, der am palästinensischen Widerstand gescheitert war«.

Video- und Bildmaterial vom ausgebrannten Fahrzeug samt Abhöranlage kann man hier einsehen, zusammen mit weiteren Hintergrundinformationen. Aber in deutschen Köpfen hat sich das Bild des Killerkommandos bereits unwiderruflich eingebrannt, weil man eben nur sieht, was man sehen will. Vom ARD Studio in Tel Aviv sieht und hört man in dieser Sache jedenfalls nichts mehr.

Die Rache

Selbst wenn aber das angebliche Killerkommando vom Tisch ist, passiert in den Köpfen der deutschen »Nahostexperten« wieder etwas Kurioses. Als würde etwas tief in ihnen sie zwingen zu sagen: »Ok, es ging also um das Ausspionieren von Informationen bezüglich Terrortunneln. Aber der Raketenbeschuss aus Gaza war eine Reaktion darauf, dass ein israelisches Kommando, natürlich widerrechtlich, in das Gebiet der Hamas eingedrungen war.«

An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob man in Deutschland immer noch nicht erkannt hat, welche Gefahr diese Tunnel für die israelische Zivilbevölkerung darstellen. Erst im Oktober dieses Jahres veröffentlichte die israelische Armee Bildmaterial zu einem dieser Tunnel, der über 200 Meter nach Israel hineinragte. Was denkt man in Deutschland, wollen Menschen, die durch so einen Tunnel nach Israel gelangen, dort tun? Verwandte besuchen und Tee mit Datteln bringen? Bedenkt man zudem, dass der Bau eines solchen Tunnels ungefähr drei Millionen US$ kostet, sollte es auch den deutschen Steuerzahler interessieren, woher diese Gelder stammen. Kommt doch ein nicht unwesentlicher Teil der Unterstützung für Gaza aus der EU und allen voran aus Deutschland.

Da ist also jemand in Gaza, der für den Bau eines ganzen Netzwerkes solcher Tunnel verantwortlich ist. Aber wehe, der israelische Geheimdienst versucht in Gaza selbst, Informationen darüber zu erlangen. Liebe Leute, erklärt bitte mal, wie ein Geheimdienst seine Arbeit verrichten soll. Über Wikipedia und Google-Maps? Oder hätte man dem Terrorpaten Nour Baraka vielleicht eine Vorladung vor ein israelisches Gericht schicken sollen, welcher er natürlich mit großer Freude nachgekommen wäre?

Der israelische Geheimdienst beliefert die halbe Welt mit Informationen, die dazu dienen, Terroranschläge von Dänemark über Frankreich, Deutschland bis hin nach Australien und Argentinien zu vereiteln, und solange diese Informationen einem selbst dienlich sind, stört sich niemand daran, wie sie zustande kamen. Aber wehe, der Staat Israel versucht, seine eigene Bevölkerung zu schützen! Dann werden aus »Nahostexperten« auf einmal Nachrichtendienstmoralapostel!

Aber na gut, spielen wir auch das einmal durch. Die über 460 Raketen und Mörser, die die Hamas innerhalb von knapp zwei Tagen über den gesamten Süden Israels gefeuert haben, waren also Rache für einen bösen Verstoß der Israelis. Und die davor?

Am 28. Juni 2018 veröffentlichte die links einzuordnende israelische Zeitung Haaretz einen Bericht, demzufolge seit Anfang des Jahres und bis zu diesem Zeitpunkt bereits 289 Raketen auf Israel abgefeuert wurden. Allein zwischen 8. und 9. August folgten daraufhin über 150 weiterer solcher Geschosse und dabei wurde unter anderem eine Frau schwer verletzt.

Am 17. Oktober dieses Jahres zerstörte eine dieser angeblich ja so harmlosen Raketen aus Gaza ein Haus in Beer Sheva beinahe völlig, und wie durch ein Wunder – auch bekannt als Warnsystem und Schutzraum – gab es dabei keine Toten. Weitere sechs Raketensalven folgten Ende Oktober.

Wenn nun die ARD auf ihrer Facebookseite am 14. November schreibt: »Mehr als 400 Geschosse wurden auf Israel abgefeuert – für die Bewohner nahe dem Gazastreifen eine Ausnahmesituation« – dann ist das irgendwo zwischen uninformiert, dumm und zynisch. Dieser Beschuss ist für Zehntausende bitterer Alltag, die zwischen 15 und 30 Sekunden Zeit haben, um von wo auch immer sie gerade sein mögen – unter der Dusche, beim Kochen, im Bett, beim Windeln wechseln – in einen abgesicherten Bunker zu gelangen und dort zu hoffen, dass ihr Haus noch steht, wenn sie wieder raus dürfen.

Wer außer Israel würde sich das gefallen lassen? Vor allem: von wem außer von Israel würde verlangt, dass er es sich gefallen lässt?

Die Proportionalität

Aber selbst, wenn wir von einem Killerkommando ausgehen und darauf beharren, dass die Raketen nichts anderes waren als eine Reaktion darauf, bleibt eine Frage offen: nämlich die der Proportionalität.

Israel wird immer wieder vorgeworfen, sich mit nicht proportionalen Mitteln zu verteidigen. Das klingt wohlwollend, denn immerhin gesteht man dem Land so ein Recht auf Selbstverteidigung zu. Die Wahl der Mittel der Selbstverteidigung spricht man Israel jedoch im selben Atemzug ab. Das ist einer der gängigen Algorithmen der Israelhasser und Antisemiten, die nicht erkennen wollen, dass sie welche sind: Gegen Juden haben sie nichts, solange der Jude tut, was sie für richtig halten. Tut er’s nicht, wird das alttestamentarische »Auge um Auge, Zahn um Zahn« bemüht, was nur eine Chiffre für Dis-Proportionalität ist.

Und »Euer JT« führt diese makabre Proportionalitätsprüfung exemplarisch vor: »Palästinenser sterben, Israelis nicht.« Kein Wort darüber, warum dem so ist: seit die Hamas in Gaza wütet, arbeitet Israel unentwegt daran, für jede Waffe und jeden Angriff Schutzeinrichtungen, Frühwarn- und Abwehrsysteme zu entwickeln, um Zivilisten zu schützen, während die Hamas Zivilisten nutzt, um ihre Waffen, Munition und Funktionäre zu schützen.

Sofort nach der Operation vom 11. November hatte die Hamas zudem auch selbst zugegeben, dass es sich bei den von Israel Getöteten um Mitglieder des militärischen Flügels der Organisation handelte. Also um Hamas-Soldaten. Was übrigens auch für 85% der durch israelische Soldaten getöteten Palästinenser am Grenzzaun galt.

Natürlich kann man darüber geteilter Meinung sein, inwieweit die geheimdienstliche Operation notwendig, klug, ethisch oder gesetzlich zulässig war. Das diskutiert man in Israel auch ausgiebig. Worüber man sich in Israel allerdings weitestgehend einig ist: selbst eine unrechtmäßige Maßnahme gegen Hamas-Soldaten in Gaza darf niemals als Rechtfertigung für einen flächendeckenden Angriff mit über 460 Raketen und Mörsern auf israelische Zivilisten dienen. Wo ist sie hier, die bei Israel so gerne bemängelte Proportionalität? Und wo ist die Debatte darüber in deutschen Medien?

Man darf nie vergessen, dass es sich bei der Hamas um eine international als terroristische Vereinigung eingestufte Organisation handelt. Dass man deren Mitglieder in deutschen Medien offensichtlich mit israelischen Zivilisten gleichsetzt, und »Euer JT« Terroristen als »politische Gegner« verharmlost, lässt vermuten, dass bei der Behandlung israelischer Themen gerne mal der moralische Kompass flöten geht.

Und dass Deutschland in der letzten UNO-Sitzung innerhalb von weniger als zehn Minuten wegen der Ereignisse der letzten Tage genau acht Mal für eine Resolution gegen Israel gestimmt hat, es dabei nicht eine einzige Resolution gegen die Hamas gab, und die gesamte UNO ohnehin gegen Israel mehr Resolutionen erlassen hat als gegen den gesamten Rest der Welt, lässt tatsächlich an jeglicher Proportionalität zweifeln. Und am moralischen Kompass sowieso.

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Über den Autor / die Autorin

Alexandra Margalith

Alexandra Margalith hat in München Rechtswissenschaften studiert, ist in Israel als Anwältin und Notarin zugelassen und hat sich in einer Kanzlei in Tel-Aviv mehr als 13 Jahre intensiv mit deutsch-israelischen Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen befasst, davon 7 Jahre als Partnerin. Sie befasst sich intensiv mit dem Nahostkonflikt und dem Antisemitismus in Europa, lange vor dem Holocaust bis heute, und verfolgt dazu die hebräische, deutsche, englisch- und französischsprachige Presse.
Seit 2012 lebt Frau Margalith aus beruflichen Gründen mit ihrem Mann in Irland.