Gaza, sechs Monate nach Israels 9/11

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Der Krieg in Gaza wird nur enden, wenn die Hamas zerstört ist. Dass die Welt Israels Einsatz mit zweierlei Maß misst, verlängert das Leid auf beiden Seiten. 

Kein Land der Welt hätte nach dem 7. Oktober 2023 zur Tagesordnung übergehen können. Doch sechs Monate nach dem größten Massenmord an Juden seit der Shoah verblasst außerhalb Israels die Erinnerung an den Grund für den Krieg in Gaza. Während ich diese Zeilen schreibe, scheint sich eine Waffenruhe anzubahnen. Wenn sie zustande kommt, wird Israel ein Vielfaches an verurteilten Verbrechern freilassen als die Hamas unschuldige Geiseln. Und die Hamas wird die Zeit nutzen, um sich auf den nächsten Kampf vorzubereiten.

Nur zur Erinnerung: 1.200 Menschen wurden ermordet, mehr als 5.000 verletzt und 240 entführt. Wer sich die Bilder, Videoclips und Berichte der Gräueltaten nicht antun möchte, kann sich einen Eindruck vom unbändigen Stolz der Täter verschaffen, indem er sich anhört, wie ein junger Terrorist seine Eltern anruft und sich damit brüstet, „zehn Juden eigenhändig getötet“ zu haben. Als hätte er im WM-Finale einen Hattrick erzielt. Den Mitschnitt samt Untertiteln kann man hier hören, Bildaufnahmen dazu wurden nicht veröffentlicht.

Eine humanitäre Katastrophe in Gaza

Sechs Monate nach Beginn des Gaza-Kriegs ist die Lage der Einwohner des Gaza-Streifens katastrophal. Die Frage ist allerdings, wer dafür verantwortlich ist. Die deutsche Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner (CDU) berichtete kürzlich vor Ort auf X, dass Israel die Zahl der Versorgungs-LKW aus Ägypten nicht limitiert, sie würden nur auf Waffen und Sprengstoff untersucht. Täglich kämen 250 LKWs an. Die UN würden aber nur 100 LKW pro Tag abfertigen, außerdem stünden zu wenige palästinensische Fahrer zur Verfügung. Frau Klöckner zufolge könnte und würde das israelische Grenzpersonal wesentlich mehr LKW abfertigen und über die Grenze lassen. Stimmt ihr Bericht, läge die Ursache für die aktuellen Versorgungsengpässe auf palästinensischer Seite. 

Für den Propagandakrieg der Hamas ist ein totes palästinensisches Kind wertvoller als eines, das zur Schule geht.

Das jedoch nur am Rande, der entscheidende Punkt ist: Die Hamas könnte den Krieg jederzeit binnen Stunden beenden: Geiseln freilassen, Anführer ausliefern. Aber für den Propagandakrieg der Hamas ist ein totes palästinensisches Kind wertvoller als eines, das zur Schule geht. Die Strategie der Hamas geht auf: Die Weltgemeinschaft reagiert auf diesen Krieg anders als auf einen, der aus einem ganz ähnlichen Anlass geführt wurde. 

Das 9/11 Israels

Eine Woche nach 9/11 verkündete George W. Bush den „War on Terror“. Die UNO schloss sich der amerikanischen Rechtsansicht an, der zufolge Terrorismus kein bloßer krimineller Akt sei, sondern eine Form des Krieges: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erkannte das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung an und betrachtete internationale terroristische Handlungen als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Damit wurde die „Operation Enduring Freedom“ völkerrechtlich legitimiert. Sie dauerte vom 7. Oktober 2001 bis zum 28. Dezember 2014. Je nach Quelle sind dabei zwischen 500.000 (Brown University) und mehr als eine Million (IPPNW) Menschen getötet worden. 

Die Weltgemeinschaft reagiert auf diesen Krieg anders als auf einen, der aus einem ganz ähnlichen Anlass geführt wurde.

Wie in jedem Krieg kamen auch in diesem Zivilisten zu Tode. Der in Deutschland bekannteste Zwischenfall ist ein Angriff in der Nähe der afghanischen Provinzhauptstadt Kundus am 4. September 2009. Auf Befehl von Bundeswehroberst Georg Klein bombardierten zwei amerikanische Kampfflugzeuge zwei Tanklastzüge inmitten einer Menschenmenge. Dabei wurden mehr als 100 Zivilisten getötet. Der deutschen Bundesanwaltschaft zufolge war der Angriff völkerrechtlich gedeckt.

Auch wenn man Opferzahlen nicht gegeneinander aufrechnen darf: der Vergleich mit 9/11 veranschaulicht die Dimension des Schocks, den der 7. Oktober in Israel ausgelöst hat. Es gibt kaum jemanden, der nicht direkt oder indirekt betroffen ist: Legte man die Zahl der Opfer der beiden Terroranschläge (2.996 und 1.200) auf die Einwohnerzahl der beiden Länder um (285 Mio. und 10 Mio.), entspräche der Anschlag der Hamas einem Äquivalent von 34.000 Todesopfern in den USA. Weniger als ein Zehntel davon hat gereicht, um 13 Jahre Krieg mit hunderttausenden Toten völkerrechtlich zu legitimieren. 

Zweierlei Maß

Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien sieht sich Israel mit dem Vorwurf des Völkermords konfrontiert. Nun mag die Frage, ob Südafrika eine Chance hat, mit seiner Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu obsiegen, ja eine interessante Aufgabe für Völkerrechtsstudenten darstellen. Politisch ist die Klage nichts anderes als ein Akt der Kriegsführung mit legalistischen Mitteln („legal warfare“), um Israel zu delegitimieren und politisch noch stärker unter Druck zu setzen. 

Dass Israel einen Völkermord an den Palästinensern plant oder begeht, ist eine absurde Vorstellung. Bislang konnte mir noch niemand, der auf Basis des Völkerrechts gegen Israel argumentiert, erklären, wie man 100%ig völkerrechtskonform Krieg gegen einen Gegner führt, der seinerseits sämtliche Bestimmungen des Völkerrechts ignoriert und aus der Mitte der Zivilbevölkerung heraus operiert. Wenn sich Militärzentralen in Schulen und Krankenhäusern verbergen, wird eben auch in Schulen und Krankenhäusern gekämpft. 

Was vielen in der täglichen Nachrichtenflut vielleicht nicht bewusst ist: Es gibt keine freie Berichterstattung aus Gaza. Sämtliche Nachrichten, die nicht von den israelischen Streitkräften stammen, kommen direkt aus der Propagandaküche der Hamas, einschließlich der Opferzahlen. Das Verhör eines Sprechers der Terrororganisation Islamischer Dschihad zeigt, wie die Massenmanipulation der Medien orchestriert wird. Unter diesem Link (mit Untertiteln) kann man es sich auf X ansehen. 

Die Rolle des Westens

Naheliegend wäre gewesen, der Palästinensischen Autonomiebehörde alle Mittel zu entziehen, bis die Drahtzieher des Terrors einem internationalen Gerichtshof und sämtliche Geiseln an Israel ausgeliefert worden sind. Naheliegend wäre gewesen, Druck auf die Hamas über Katar und Iran aufzubauen, ohne deren Unterstützung die Hamas ihre jetzige Stärke niemals hätte aufbauen können. Naheliegend wäre gewesen, der Hamas – und den Einwohnern des Gaza-Streifens – unmissverständlich klarzumachen, dass der Krieg nicht enden wird, solange sich auch nur eine einzige Geisel in ihrer Gewalt befindet. 

Wir alle wissen, was stattdessen passiert ist. Statt einer „Koalition der Willigen“ gab es Ermahnungen Israels durch die Biden-Regierung und die EU, ein Mehr an Geldern für den Gaza-Streifen und anti-israelische Demonstrationen im Wochentakt.

Völkerrecht ist Politik. Am Ende läuft alles auf die Frage hinaus, ob man Israel das Recht zubilligt, Krieg gegen die Hamas zu führen. Dass der Westen statt der Hamas Israel unter Druck setzt, verlängert nicht nur das Leid der israelischen Geiseln und ihrer Angehörigen, sondern auch das der Bewohner des Gaza-Streifens. 

 Zuerst erschienen im Pragmaticus.


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.