Streitende Kinder am Kinderspielplatz
Die Brexit-Diskussionen im Britischen Parlament wirken auf kontinental-europäische Kommentatoren, Journalisten und Beobachter nur mehr chaotisch und irritierend. Abgeordnete der oppositionellen Labour Party stimmen mit den Konservativen und boykottieren den eigenen Partei-Chef, während zahlreiche Vertreter der Regierungspartei der eigenen Premierministerin die Unterstützung verweigern. Und zu guter Letzt treten dann noch Parlamentarier aus ihren eigenen Fraktionen aus und gründen eine neue Gruppe, die auf Anhieb 18 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung bekommt.
»Die spinnen die Briten« ist da noch eine höfliche Untertreibung des Chaos‘ der britischen Demokratie, deren Struktur und Mechanismen den meisten Ländern am Kontinent fremd sind. Es gibt keinen Fraktionszwang, es wird niemand ausgeschlossen, wenn er/sie eine andere Meinung als die Parteiführung vertritt, und dennoch ist Großbritannien eine der stabilsten Demokratien in Europa. Selbst während der schlimmsten Wirtschaftskrisen wandte sich die Bevölkerung keinen radikalen Parteien zu, das Land kannte keinen Faschismus und keinen Nationalsozialismus und leistete erbitterten Widerstand gegen eine Invasion der Deutschen Wehrmacht.
Überträgt man die Vielfalt und die scheinbare Unordnung der britischen Demokratie auf die Alpenrepublik, so erkennt man sehr schnell die Unterschiede. In Österreich gilt die Vielfalt von Meinungen innerhalb einer Partei als Schwäche, als Verlust der Autorität der Parteiführung, und jedes Chaos wird intern als Bedrohung erlebt und extern entweder als Verrat verdammt oder als Bestätigung der eigenen Kritik an der Partei gefeiert.
Die Diskussion um die Gewaltschutzbestimmungen – die Schutzhaft oder Sicherungshaft, die ihren Namen bekommt, je nachdem auf welcher politischen Seite man steht – hat neben der Banalität der Diskussion auch die Schwächen der österreichischen Demokratie gezeigt. Von Beginn an ging es nie um eine inhaltliche Auseinandersetzung, auch nicht um die Opfer oder Täter, nicht um konkrete Fälle oder das Sicherheits- und Freiheitsdenken der Bevölkerung.
In einer absurd emotionalen Diskussion positionierten sich die Kritiker des Innenministers als Betroffene – nicht durch die potentielle Kriminalität betroffen, sondern als potentielle politische Opfer einer faschistoiden Taktik. Die eigene Empfindlichkeit ersetzte die inhaltliche Diskussion, die Kritiker zeigten sich erschüttert und ergriffen, und in ihrer emotionalen Beschränktheit und Gefühlskalte benutzten sie in ihrer reduzierten Sprache als Symbol ihrer Befindlichkeit die Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur.
Dabei war ihnen kein Vergleich zu blöd. Die Verhaftungsdokumente von Bruno Kreisky wurden ausgegraben, die Gesetze der Nationalsozialisten mit den Vorschlägen des Innenministers verglichen, und in einem besonders geistreichen Beitrag in der Tageszeitung »Der Standard« reichte der historische Vergleich bis zum Reichstagsbrand 1933 zurück und dem Terror der Gestapo gegen kommunistischen Brandstifter, denen man das Verbrechen vorwarf.
Um auf unterschiedliche Ansichten innerhalb politischer Gruppen – wie in Großbritannien – zurückzukommen, gab es auch in Österreich widersprüchliche Meinungen innerhalb der Parteien. Im konkreten Fall wurden von den Medien jene gefeiert, die innerhalb der Koalition die Vorschläge des Innenministers kritisierten, und jene verdammt, die innerhalb der Opposition den Vorschlag zumindest als diskussionswürdig beurteilten. Man suchte sich die Verräter aus und lobte deren Mut oder verurteilte ihre Illoyalität. Den Wert der Diskussionsvorschläge beurteilte man nach vereinspolitischer Zugehörigkeit.
Auf den ersten Blick haben Reaktionen auf die innerparteiliche Meinungsvielfalt und die lächerlichen Vergleiche mit historischen Ereignissen im Zusammenhang mit den Sicherungsvorschlägen nichts zu tun – haben sie aber doch. Sie sind wie Mosaiksteine in ihrer Gesamtheit ein Ausdruck der mangelnden demokratischen Kultur in Österreich. Einerseits lässt sich die Opposition von regierungskritischen Medien und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in eine Empör-Kultur drängen, die ihr jede Möglichkeit nimmt, Vorschläge der Regierung auf einer sachlichen Ebene zu kritisieren und mit eventuellen Gegenvorschlägen zu punkten. Anderseits präsentieren sich Regierungsmitglieder als Verteidiger der Interessen einer verängstigten Bevölkerung und drängen sich ebenso in eine Position, wo eine nüchterne Diskussion kaum mehr möglich ist. Auf beiden Seiten bleibt wenig Spielraum für eine überzeugende Lösung, die sich nicht auf Angst und Bedrohung abstützt – Freiheit und Sicherheit als das ewig konträre Brüderpaar einer Zivil-Gesellschaft.
Zurück bleibt ein gegenseitiges Attackieren, dass die Regierung die Demokratie gefährde mit Entscheidungen, die an die NS-Diktatur erinnerten, und die Opposition durch eine pseudo-moralische Betroffenheitskultur der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit verweigere.
Beide Argumentationen haben sich – wie der Philosoph Robert Pfaller es so treffend beschrieb – vom »Erwachsenen-Verhalten« verabschiedet und verlagern den Konflikt auf das Niveau von streitenden Kindern auf dem Kinderspielplatz, wobei beide Seiten gegenüber der anderen in der Rolle des ermahnenden Erziehungsberechtigten auftreten. Die Infantilisierung des politischen Dialogs endet immer in einer Drohgebärde, wo mit erhobenem Zeigefinger an die Regeln erinnert und eine Verletzung derselben als a-moralisches Verhalten verurteilt wird. Eine Form der Bevormundung setzt ein und ersetzt das Gespräch zwischen Gleichberechtigten. Robert Pfaller kommt zu dem Schluss, dass ein Moralisieren in der Politik immer eine Verfallserscheinung symbolisiere.
In diesem Sinne verbeißt sich eine Empör-Gesellschaft in die NS-Argumentationsstrategie, die jeden Meinungsaustausch und sogar produktiven Streit verhindert. Der Vergleich mit Entscheidungen aus der NS-Zeit hat immer nur den einen Grund, den Gegner auf eine moralisch niedrige Stufe zu verdammen und sich selbst als Beschützer der Moral zu preisen. Die damit verbundene Romantisierung der Opfer und der Schwachen in der Gesellschaft bietet den Kritikern die Möglichkeit, eine symbolische Hierarchie zu bilden und sich selbst auf dieser zu platzieren. Doch Hilfe und Rettung der Schwachen kann nicht die entscheidende, dominante politische Strategie einer Partei sein, sondern es geht um das Ziel, gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die das »Schwach-Sein« als Opfer oder Benachteiligter so weit wie möglich verhindert. Ständig als »Vertreter der Schwachen« in der Politik aufzutreten ist eine der peinlichsten politischen Positionierungen, da es eine Definition und Identifikation der Schwäche voraussetzt.
Staatssekretärin Karoline Edtstadler, die als Richterin auf diese Diskussion reagierte und eine juristische Eben ansprach, und der Landeshauptmann von Burgenland, Peter Doskozil, der Bereitschaft zeigte, auf eine politische Diskussion über den Vorschlag einzugehen, sind wahre Lichtblicke in dieser Auseinandersetzung. Beide holten damit das politische Sandkasten-Spiel auf die »Erwachsenen-Ebene« zurück und ermöglichen eventuell eine Diskussion, die sogar ein Ergebnis bringen könnte, das rechtsstaatlich durchsetzbar ist und auch die notwendige Verbesserung der Sicherheitslage bringt. Ob sich die beiden in ihren eigenen politischen Lagern durchsetzen, wird sich allerdings noch zeigen.
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