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WM-Tagebuch, 2. Juli

Nach mehreren Spielen der Weltmeisterschaft, zum Teil life, zum Teil vor dem TV-Schirm erlebt, könnte ich meine Eindrücke in einem Satz zusammenfassen: Hysterische Begeisterung über mittelmäßiges Niveau.

Letzte Saison in England konzentrierte ich mich auf die Spiele von Manchester City und versuchte, jedes einzelne Spiel entweder im Fernsehen, oder wenn sie gegen ein Londoner Team spielten, in einem der Club-Stadien zu sehen. Hier bot sich dem Zuseher eine futuristische Fußballkunst, die bisher zumindest in England nicht bekannt war. Der geniale Trainer Joseph »Pep« Guardiola schuf eine Mannschaft, die über den Rasen tanzte und mit 100 Punkten einen einmaligen Rekord in der Britischen Premier-League erreichte.

Dieses Niveau ist mit einer Nationalmannschaft scheinbar nicht erreichbar, was auch verständlich ist, denn die Spieler trainieren nur wenige Wochen miteinander, und die verschiedenen nationalen Fußball-Organisationen könnten sich keine Trainer mit einem Niveau wie »Pep« leisten. Doch es gibt einen Ersatz für die spielerischen Schwächen, und das ist der kollektive Stolz auf »seine/ihre« Mannschaft, unabhängig vom Spielniveau wird ihnen die Treue gehalten.

Spiele wie Russland gegen Spanien oder Dänemark gegen Kroatien boten nicht viel an Spielkunst, Frankreich gegen Argentinien und Uruguay gegen Portugal waren eher die Ausnahmen. Dennoch, die Fans aus den verschiedenen Ländern ließen sich nicht beirren und standen eisern hinter ihren Mannschaften – und, auch das muss hier einmal erwähnt werden – benahmen sich zumindest bisher überzeugend zivilisiert und fair. Rund um die Spiele in den Städten, die ich gesehen habe, sammelten sich Anhänger in Gruppen in Parks, auf den Straßen und auf Hauptplätzen, sangen laut, tanzten, umarmten einander, doch keiner ging auf einen Fan einer gegnerischen Mannschaft los.

Der einzig unangenehme Zwischenfall betraf eine Gruppe Tunesier, die eine Familie aus Israel attackierten und einkreisten und mit Drohgebärden auf sie losgingen, bis belgische Fans, die zufällig in der Nähe waren, die Tunesier abdrängten und sich um die Israelis kümmerten.  Kaum eine Zeitung hat darüber geschrieben, nur die israelischen Medien erwähnten den Vorfall und zeigten Bilder des weinenden Sohnes, der sich erschreckt an den Vater klammerte.

Eindrucksvoll sind die Sicherheitsmaßnahmen. Um jedes Stadion eine verkehrsfreie Zone von etwa 5 Kilometern mit schwer bewaffneten Einheiten, die alle Straßen, die zu den Stadien führen, blockieren und kontrollieren. Die aufwendigen Kontrollen beim Eintritt verzögern zwar den Zutritt, werden jedoch von den Zusehern geduldig akzeptiert. Bisher gab keine Proteste, keine Aufregungen und keine Interventionen der Sicherheitsdienste.

Versuche ich den Vergleich mit Britischen Fußballstadien, so fällt mir sofort die Verpflegung ein. Die Briten lieben ihren Stil auch beim Fußball, und selbst hinter den billigsten Rängen, hoch oben, kann man in den Pausen eine Portion Fish-and-Chips, einen Hamburger oder Hot-Dog und die verschiedensten Sandwiches genießen und gleich daneben an der Bar einen »Drink« nehmen, mit einem vielfältigen Angebot wie in jedem Pub.

In Russland scheinen je eine Cola und eine Bier Firma die WM gekauft zu haben, außer diesen beiden Getränken gibt es nur Wasser, und bei den Speisen sieht es noch ärmer aus. Hot-Dog und Popcorn, damit muss man auskommen.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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