Lasst die Ukraine nicht im Stich!

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Die Ukraine hat zu wenig Waffen, um sich zu verteidigen und Gebiete von Russland zurückzugewinnen. Doch ihre Niederlage und damit ein Sieg Russlands wäre fatal für uns alle.

Putin hat gute Chancen, dass sich sein Überfall auf die Ukraine bezahlt macht. Nicht aufgrund der Fähigkeiten der russischen Armee. Nicht aufgrund der schieren Größe Russlands, seiner höheren Zahl an Soldaten oder seiner überlegenen Militärtechnik. Sondern einzig und allein, weil der Westen die Ukraine am ausgestreckten Arm verhungern lässt. 

Zu wenig und zu spät, lässt sich die militärische Unterstützung der Ukraine zusammenfassen. Über jede neue Waffengattung wird endlos diskutiert, und dann folgen großen Worten nur wenig Taten. Zwei Jahre nach dem Überfall Russlands versorgt der Westen die Ukraine immer noch nicht in ausreichender Menge mit den notwendigen Waffen, um Putins Truppen zurückzuwerfen. Jeder Tag dieser ganz und gar nicht noblen Zurückhaltung kostet ukrainische Leben.  

Angst vor dem Sieg

Dieser Tage verweigerte der US-Senat geplante Militärhilfen in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar. Ob, wie und in welcher Höhe doch noch Mittel freigegeben werden können, ist zur Stunde völlig offen. Und sollte Donald Trump im Herbst die Präsidentschaftswahlen gewinnen, droht nicht nur das Ende der Unterstützung der Ukraine, sondern eine essenzielle Schwächung der NATO, wenn nicht gar ihr Zerfall. Zumindest, wenn Kanada und die Europäer nicht endlich ihrer 2014 selbst verordneten Verpflichtung nachkommen, zwei Prozent des jährlichen BIP in die Landesverteidigung zu investieren. Nur rund ein Drittel der Mitglieder hat diese Vorgabe 2022 erfüllt. 

Die Schwäche Europas ist mit Blick auf die Unsicherheiten in den USA besonders bitter. Im März 2023 hatten sich die EU-Staaten darauf geeinigt, der Ukraine binnen zwölf Monaten eine Million Schuss Artilleriemunition bereitzustellen. Bis heute geliefert: 300.000. 

Was für ein Armutszeugnis für ein Europa, das tagtäglich davon spricht, unabhängiger von den USA werden zu müssen. Und was für eine Schande für den gesamten Westen. Alle fadenscheinigen Ausreden der Politik laufen angesichts der Realität ins Leere. Allein das gemeinsame BIP (Bruttoinlandsprodukt) von Deutschland und Frankreich ist dreimal höher als jenes von ganz Russland. Zählt man die wichtigsten Verbündeten der Ukraine – die EU, die USA und das Vereinigte Königreich – zusammen, steht es ungefähr 20:1 gegen Russland.

Die Angst vor dem Sieg ist größer als die Angst vor der Niederlage. 

Und wir sollen es angeblich nicht schaffen, genügend Munition zu produzieren? Was für ein hanebüchener Unsinn. Die bittere Wahrheit ist: Wir wollen es nicht. Die Angst vor dem Sieg ist größer als die Angst vor der Niederlage. Und diese Angst des Westens ist Putins mächtigste Waffe.  

Was bei einer Niederlage der Ukraine droht

Die Zögerer und Zauderer malen zu ihrer Rechtfertigung meist das Risiko eines atomaren Gegenschlags Putins an die Wand, sollte Russland den Krieg zu verlieren drohen. Was sie nicht dazu sagen: das wäre das Ende jeglicher russischen Ambitionen. USA und NATO würden mindestens die konventionellen russischen Kapazitäten vollständig zerstören, Russland wäre international komplett isoliert, der Traum von der Weltmacht wäre endgültig geplatzt. Kurz: Russland hätte mit dem Einsatz einer Nuklearwaffe nicht das Geringste zu gewinnen. 

Demgegenüber haben wir viel zu verlieren, wenn Russland siegt. Putin ist ein rationaler Akteur. Herrscht er am Ende über mehr ukrainisches Gebiet als vor dem 24. Februar 2022, hat sich der Überfall aus seiner Sicht gelohnt. Nichts spricht dafür, dass Russland sich damit zufriedengeben würde. Was einmal geht, geht es auch ein zweites und ein drittes Mal.

Das wirksamste Mittel, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern, ist eine glaubwürdige Abschreckung.

Dazu kommt: Die Ukrainer würden sich nicht damit abfinden, unter der Herrschaft eines verhassten Regimes zu leben, das sie jahrelang unter größten Opfern bekämpft haben. Nichts hat das ukrainische Nationalbewusstsein mehr gestärkt als Putins Angriffskrieg. Das Ergebnis eines russischen „Sieges“ wäre ein jahre-, wenn nicht jahrzehntelang eingefrorener Konflikt, mit Tausenden Opfern und Millionen Vertriebenen. Zudem wäre ein Sieg Putins ein fatales, weil ermutigendes Signal für alle Gegner des Westens mit Eroberungsgelüsten, von Iran bis China. 

Ein dritter Weltkrieg 

„Das Einzige, was Wladimir Putin versteht, ist Stärke“, sagt Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas, die auf einer internen Fahndungsliste des russischen Innenministeriums steht, in einem Interview mit der Presse. Sie weiß, wovon sie spricht, wenn sie fordert, die Verteidigungskapazitäten der NATO zu verstärken und die Verteidigungsausgaben Europas zu erhöhen:

„Es gibt das Sprichwort, dass man den Wert der Freiheit erst wirklich kennt, wenn sie einem genommen wird. Als ich jung war, lebten wir unter dem Joch der Sowjetunion, wir hatten keine Freiheit. Und dann, im Jahr 1991, haben wir unsere Freiheit wiedererlangt. Die Generation meiner Urgroßeltern hat genau das Gegenteil erlebt: Als sie jung waren, hatten sie alles. Wohlstand. Freiheit. Wahlmöglichkeiten. Ihnen stand die ganze Welt offen, doch als die Sowjetunion Estland 1940 unrechtmäßig annektierte, wurde ihnen alles genommen.“

Es liegt in unserem ureigensten Interesse, Millionen von Ukrainern ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Wenn die Schwäche des Westens autoritäre Gegner zur Expansion ermutigt, drohen uns noch mehr Krieg und Zerstörung. Die bisher geleisteten Hilfen für die Ukraine in Höhe von rd. 240 Milliarden Euro mögen viel erscheinen. Verglichen beispielsweise mit dem Eine-Billion-Euro Plan der EU für den Klimaschutz, ist es eine überschaubare Summe. 

Der britische Historiker Niall Ferguson hat die naheliegende, reale Bedrohung auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos angesprochen: „Ein dritter Weltkrieg tötet schneller als der Klimawandel.“ Das wirksamste Mittel, um ihn zu verhindern, ist eine glaubwürdige Abschreckung. Der Sieg der Ukraine – also die Wiederherstellung ihrer nationalen Souveränität – ist dafür unabdingbar. Europa muss sich schleunigst in die Lage versetzen, alles dafür Nötige aus eigener Kraft bereitstellen zu können.

 Zuerst erschienen im Pragmaticus.


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.