DER MARSHMALLOW-TEST

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Die Kraft der Geduld

In einer der besten Szenen des Filmes »Once Upon a Time in America« verspricht ein molliges, frühreifes Mädchen einem etwas jüngeren Verehrer, sie wäre bereit, sich küssen lassen, falls er ihr ein bestimmtes Stück Kuchen bringe, das nur die teure Bäckerei an der nächsten Ecke verkaufe. Es gelingt ihm, das Geld aufzutreiben, er holt den Kuchen und wartet geduldig im Stiegenhaus vor der Eingangstür, wo das Mädchen wohnt, auf der flachen Hand die verlockende Torte, mit weißem Schlagobers auf dem kreisrunden Stück und einer roten Kirsche in der Mitte.

Jedoch, je länger er wartet, desto verzweifelter starrt er auf das süße Meisterwerk, bis er beginnt, ganz vorsichtig am Rand etwas Schlagobers wegzukratzen und seine Finger abzulecken, bricht nach ein paar Minuten ein ganzes Stück ab, dann ein weiteres, und stopft plötzlich den ganzen Kuchen in seinen Mund.  Als das Mädchen herauskommt und ihn mit verklebten Fingern und einem weißen Rand Zucker um seinen Mund sieht, schlägt sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Wissenschaftler untersuchten mit verschiedensten Experimenten das Phänomen der Geduld, um eine versprochene Belohnung zu bekommen, die den »Wert« der Sofort-Befriedigung mindert. Besonders bekannt ist der sogenannte Marshmallow-Test, bei dem es jetzt durch den Vergleich verschiedener Generationen untereinander zu erstaunlichen Ergebnissen kam.

Historiker werden die Jugend unseres Zeitalters vielleicht einmal als jene der Selfies und Social Media beschreiben, doch es gibt ganz andere Untersuchungen, die erstaunliche Veränderungen beschreiben. Vor sechzig Jahren revolutionierte der Psychologe Walter Mischel von der Stanford University die Untersuchungen am Verhalten von Kindern mit einem einfachen Experiment. Er bot Kindern zwischen drei und sechs Jahren eine Süßigkeit, die er auf den Tisch legte, und versprach ihnen das Doppelte und Dreifache, je länger sie ausharrten und die verlockenden Marshmallows nicht aßen. Ein ganzes Team von Fachleuten untersuchte in den folgenden Jahren die Entwicklung dieser Kinder und fand einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, geduldig vor der Süßigkeit auszuharren und an die »Zukunft« zu denken, und einer besseren Vorbereitung für die Probleme des Erwachsen-Werdens. Je länger die Kinder bereit waren zu warten, desto besser waren ihre Schulnoten, sie waren weniger anfällig, an Übergewicht zu leiden, ihre sozialen Fähigkeiten entwickelten sich besser und auch einzelne Begabungen setzten sich besser durch.

Neben dieser Untersuchung der Kinder in einer bestimmten historischen Epoche ergab sich durch die Wiederholung der Experimente in gewissen zeitlichen Abständen eine ganz andere Information, die Wissenschaftler noch nicht ganz bereit sind, zu erklären und zu begründen. Die Theorien sind zum Teil widersprüchlich und sehr verallgemeinernd.

Das Experiment wurde alle zehn Jahre wiederholt und zeigte eine interessante Veränderung im Verhalten der Kinder. Etwa alle zehn Jahre seit dem ersten Versuch verlängerte die Mehrheit der Kinder die Wartezeit. In den Jahren seit 2000 warten die Kinder etwa eine Minute länger als in den achtziger Jahren und zwei Minuten länger als in den sechziger Jahren. In dem Journal Developmental Psychology beschreiben die Autoren eine Form der Geduld und Gelassenheit bei heutigen Kindern, die vor ein paar Jahrzehnten nicht zu beobachten war.

Während eine Gruppe von Wissenschaftlern die Erklärung in der technisierten Welt der Kinder sucht, die damit eine bessere Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickeln würden, sehen andere ein verändertes, weniger autoritäres Erziehungsverhalten der Eltern, das den Kindern mehr Selbstsicherheit verleiht. Vor allem in Schweden wurden Zusammenhänge zwischen Erziehungsstil der Eltern und Lehrer und dem sogenannten Geduld-Verhalten der Kinder untersucht. Kinder, die eine Vorschule besuchen und durch die Eltern vom Beginn an in ihrer Entwicklung unterstützt werden, zeigen eine wesentlich längere Wartezeit im Marshmallow-Experiment. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein geförderter Lernprozess den Kindern eine gewisse Selbstsicherheit gibt, mit der sie Stress-Situationen besser bewältigen und zu einem analytischen Denken fähig sind.

Unbeantwortet ist bisher der Widerspruch zwischen der Geschwindigkeit der modernen Information durch technische Errungenschaften wie Internet, Computer und Mobil-Telefone und der steigenden Gelassenheit der neuen Generationen. Einerseits wird argumentiert, dass selbst Kinder heute bereits durch den Zugang zur Technologie ein völlig neues Informationsverhalten zeigen, anderseits beweisen Experimente, dass das »Sofort und Jederzeit« nicht immer Vorrang hat, und Kinder, die in dieser Welt aufwachsen, eine von Generation zu Generation verbesserte Fähigkeit zeigen, mit den angebotenen Möglichkeiten umzugehen.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Adrian Wells von der Universität Manchester sieht in der »Power of Patience« (Kraft der Geduld) – wie er es nennt – eine wichtige, positive Entwicklung. Er ist allerdings skeptisch, dass es einen direkten, sozusagen automatischen Zusammenhang zwischen der »Fähigkeit zu Warten« und einem erfolgreichen Erwachsenen-Leben gäbe. Er sieht es eher als ein Potential, eine Chance, auf die man als Eltern und Lehrer aufbauen könnte, wenn man es erkennen und entsprechend reagieren würde. Wenn die Fähigkeiten der Kinder, schon in frühem Alter längerfristig zu denken, sich von Generation zu Generation verbessere, müsste dies auch eine Veränderung der Gehirnfunktionen zeigen. Ob diese Verbesserung der Möglichkeiten genützt werde, sei allerdings eine andere Frage. Nach Professor Wells‘ Meinung steht die Möglichkeit der kurzzeitigen, impulsiven, plötzlichen Befriedigung durch Internet-Kommunikation dieser Entwicklung der geistigen Fähigkeiten im Weg, und man könnte vielleicht in Zukunft erforschen, wie lange ein Teenager fähig sei, auf eine Nachricht am Mobil-Telefon nicht zu reagieren, wenn dafür gewisse Vorteile angeboten werden.

Kinder haben eine gewisse Berechtigung zu Spontanität und Ungeduld. Das macht in vielen Situationen das Kindes-Alter aus und unterscheidet sich vom Erwachsenen-Alter. Die meisten Konflikte zwischen Kindern und Eltern betreffen diese sogenannte Ungeduld, das unüberlegte Handeln, das Nicht-Befolgen von Anordnungen und die Irritationen durch unberechenbare Reaktionen. Im Laufe ihrer Entwicklung treffen Menschen als Kinder und später als Erwachsene Entscheidungen, die unterschiedliche Konsequenzen haben, je nachdem wie »geduldig« agiert und reagiert wird. Das kann entweder mit dem Satz symbolisiert werden: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, oder um mit Qualtinger zu kontern: »Ich weiß zwar nicht, wo ich hin will, dafür bin ich schneller dort.«

Das Gegenteil von »spontan« könnte ebenso »zögerlich und vorsichtig« wie »geplant und zielbewusst« bedeuten, und eine richtige Balance zwischen den beiden Reaktionen ist schwer zu definieren und von Situation zu Situation anders zu bewerten. Tatsache bleibt jedoch, dass die Vergleiche des Verhaltens von Kindern in verschiedenen Jahrzehnten eine messbare Veränderung in der Bewertung des positiven Potentials der Zukunft haben.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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