MATURA NEU? JA, JETZT!

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Corona ist eine Aufforderung zum Nachdenken

Eine Chance ist die Coronakrise mitnichten. Dass sie zum Denken auffordern muss, ist aber alternativlos. Auch die Zukunft der Matura erzeugt in Zeiten von Corona erheblichen Nachdenkbedarf.

Die Coronakrise als ›Chance‹ zu bezeichnen, grenzt an Zynismus, wie auch die naive Begeisterung über den angeblichen Segen der durch sie verursachten ›Entschleunigung‹. Solche Wertungen kommen nicht zufällig von Personen, deren Existenz staatlicherseits gesichert ist – Arbeitnehmer öffentlicher Institutionen und Pensionisten; also Personen, deren monatliches Salär weitgehend unabhängig von der erbrachten Leistung verlässlich am Konto landet. 

Trotz aller finanzieller Hilfen der Bundesregierung ist die Coronakrise für Hunderttausende, wenn nicht für Millionen, die beruflich vom Markt abhängig sind, eine ökonomische und damit auch eine private Katastrophe. Wenn man bedenkt, dass bereits in Zeiten einer guten Konjunktur nur rund ein Drittel der Firmenneugründungen – Stichwort Startups – dauerhaft überlebt, dann kann man ermessen, was die gegenwärtige Krise an negativen Folgen für die Betroffenen aus Privatwirtschaft  und Kulturleben – zigtausende von Österreichs Image prägenden Künstlern sind Einzelunternehmer und durch die Absage etwa von Konzerten massiv betroffen – zeitigen wird.

Nein, eine ›Chance‹ ist die Coronakrise mitnichten, doch neues Denken, neues (Mit)fühlen und neues Handeln in allen Bereichen sind Notwendigkeiten, auf die Corona unsere Köpfe mit Wucht hinstößt.

Corona & Matura – was tun?

Die Matura ist nicht erst seit Corona, sondern bereits seit Jahren in der Krise. Teils der Grundrechnungsarten und des sinnerfassenden Lesens nicht mächtige Maturanten, die Klagen der Universitäten darüber, der schleichende Verlust der Bedeutung der Matura als generelle Studienberechtigung – all dies zwingt mit Macht, die Matura generell und ganz besonders ihre derzeitigen, wenig gefestigten, von halbherzigen Reformen gebeutelten Ausprägungen – Stichwort ›teilzentral‹ – zu überdenken.

Medizinhistoriker verweisen darauf, dass die ›Spanische Grippe‹, die in den Jahren 1918 bis 1920 weltweit rund 50 Millionen Todesopfer gefordert hat, deswegen in immer neuen Wellen wüten hat können, weil die sinnvollen Maßnahmen – Quarantänen, Schließung von Schulen, Veranstaltungsverbote – jeweils viel zu früh, nämlich bei ersten Anzeichen einer Entspannung gelockert oder aufgehoben worden sind. Die Folge war ein länger als zwei Jahre währendes, alle Weltgegenden erfassendes tödliches ›Perpetuum Mobile‹.

2020 – eine Krisenmatura?

Eine vorzeitige Aufhebung der Sicherheitsbestimmungen – dieser verhängnisvolle Fehler wird sich 2020 nicht wiederholen! Für die Matura 2020 bedeutet dies, dass sie in sinnvoller Form vermutlich nicht im ersten Halbjahr wird stattfinden können. Die Matura auf den Herbst zu verschieben, ist aus verschiedenen Gründen kaum eine sinnvolle Option – zu wenig Zeit für Vorbereitungen wegen der Sommerferien, die kaum zu canceln sein dürften, der Beginn des Studienjahres an den Unis, drohende Teilblockade des regulären Unterrichtsbetriebes am Schulbeginn etc. 

Am sinnvollsten wäre es, dem Rat jener schulpraktisch orientierten Experten zu folgen, die eine ›Krisenmatura‹ vorschlagen, die vollständig auf Prüfungen verzichtet und ein Maturazeugnis vorsieht, das hoch verantwortungsbewusst aus den Lernergebnissen der vorletzten Klasse und des im Februar 2019 zu Ende gegangenen Semesters komponiert ist. Die öffentliche Präsentation der vorwissenschaftlichen Arbeiten kann über das Internet erfolgen. 

Jene relative Entspannung, die diese Regelung mit sich bringen würde, wäre eine spürbare Entlastung für Tausende Maturanten, Eltern und Lehrer, die ohnehin in vielen anderen Lebensbereichen in den kommenden Monaten noch nie dagewesene Herausforderungen zu bewältigen haben werden. Und der Saldo aus Nutzen und Schaden dieser Form der Krisenmatura? Umfassendes win, win, win! 

Die Matura der Zukunft

Weitergehen muss in den kommenden Monaten der erzwungenen maturalen ›Entspannung‹ das Nachdenken über eine künftige Form der Matura, die für deren Absolventen im besten Sinne nutzbringend ist und der Matura als solche wieder akademischen Stellenwert und gesellschaftliche Anerkennung bringt. ›Nutzbringend‹ bedeutet in allererster Linie zukunftstauglich.

Die Zukunft verlangt von Maturanten Dreierlei: den konstruktiven Umgang mit neuen, ungewohnten Situationen (Erkennen, Kreativität, Flexibilität, davon geleitetes Handeln), die positive Stärke des auf sich allein gestellten Individuums, sowie das sozial orientierte ›Funktionieren‹ des Individuums als Teil eines Teams, also in der Gemeinschaft. Hier geht es um Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit, um Demokratiefähigkeit und Solidarität – Werte, die künftig unverzichtbarer als je zuvor sein werden.

Das WIE einer künftigen Matura

Eine künftige, wirklichen Lebensnutzen bringende Matura könnte diesen Prämissen folgen: Das grundsätzliche Postulat des ›konstruktiven Umgangs mit Neuem‹ wird dadurch erfüllt, dass Gegenstand der Matura nicht das Abprüfen des in den Jahren zuvor vermittelten Stoffs ist, sondern wirklich völlig Neues – nämlich der Nachweis der positiven Stärke jedes Maturanten sowohl als Einzelperson als auch als Teil eines sozialen Gefüges, wie es jede Form von echter Teamarbeit verlangt. 

Der Breite der möglichen Themen für diese öffentlichen maturalen Solo- und Teampräsentationen sind keine Grenzen gesetzt – allein Corona und die Folgen werden noch für Jahrzehnte Stoff in unzähligen Themenbereichen bieten. Noch nie in der Menschheitsgeschichte hat es eine derartige Vielzahl von Themen gegeben, die alle Menschen betreffen und bewegen – globale Erwärmung, umweltfreundliche Energiegewinnung und eine ebensolche Mobilität, Pflege, Wissens- und Bewusstseinstransfer, die prägende Rolle von Weltanschauungen und Glaubensinhalten – und nicht zuletzt die stete Suche nach dem Wahren. Auch hier wird der Weg das Ziel sein. Es geht unter dem Strich darum, in dieser neuen Form der Matura das während der gesamten Schulzeit erworbene ›Handlungs-Wissen‹ in den Dienst einer tatsächlichen ›Prüfung der Reife‹ zu stellen. 

An die Stelle der derzeitigen vorwissenschaftlichen Arbeit treten je ein fundiertes schriftliches Konzept für die geplanten Solo- und Teamarbeiten. Diese Konzepte sollten mehrere Monate vor der eigentlichen Matura in einem würdigen, also feierlichen Rahmen der Öffentlichkeit vorgestellt werden. 

Zu überlegen wäre, am Ende der vorletzten Klasse gleichsam als Zulassung zum Übertritt in die Maturaklasse einen ernsthaften ›Lapis Lydius‹, also einen nicht kommissionellen Prüfstein vorzusehen, der insbesondere die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen, Fremdsprachen und Zukunftswissen – also Erkenntnisfähigkeit, Geschichts- und Gegenwartsverständnis, Ethik im Sinne der ›Lehre von den immateriellen Werten‹, Wirtschafts- und Umweltwissen – zum Inhalt hat.

Eine der zentralen Herausforderungen für die Lehrpersonen wird es sein, die Vorbereitungsarbeiten der Maturanten behutsam, herausfordernd und geduldig zu stimulieren und zu begleiten – also im besten Sinne zu leiten. Von besonderer Bedeutung wird die Arbeitshaltung aller bei der besonders herausfordernden Teamaufgabe sein. Die Lehrpersonen müssen konsequent jenen die Zuerkennung der Matura zu verweigern, die im Teamprojekt kein Engagement zeigen und die anderen für sich arbeiten lassen wollen. Warum? Die wissensorientierte Fähigkeit zum Gemeinsamen muss heute das zentrale Bildungs- und Erziehungsziel sein. Vom Individualpsychologen Alfred Adler stammt die Feststellung: »Es gibt keine absolute Wahrheit! Was ihr aber am nächsten kommt, ist die Gemeinschaft.«

Nein – Corona ist keine ›Chance‹, denn diese Seuche ist eine epochale Bedrohung, die das Leben zwangsläufig mit alternativlosen Verboten nahezu lahmlegt und vielfaches Leid verursacht. Nicht verboten ist das Nachdenken – vor allem, wenn es um die Optimierung von Bildungschancen geht. Bildung wird in der Nach-Corona-Zeit auf Grund der zu erwartenden noch komplexeren Problemlagen einen noch höheren Stellenwert einnehmen müssen als heute.

Literaturtipp:
Harald Salfellner
DIE SPANISCHE GRIPPE – EINE GESCHICHTE DER PANDEMIE VON 1918
Vitalis Verlag 2018


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Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole