JEWISH CORONA

J

Das Virus und die jüdische Mama

Davids Telefon läutet, er sieht die Nummer seiner Mutter und zögert, ob er antworten soll, lässt es eine Zeitlang läuten und antwortet dann doch.

»David! Ich ruf schon dreimal an, warum antwortest du nicht!«

»Mama, wir haben heute schon geredet, was ist jetzt los?«

»Ich kann nicht einmal meinen Sohn mehr etwas fragen, wenn ich hier allein in der Wohnung sitze, und niemand kümmert sich um mich?«

»Natürlich kümmere ich mich um dich, ich habe dich jeden Tag besucht, dir Essen gebracht, was soll ich noch tun?«

»Mein Klopapier ist bald aus. So geht es deiner Mutter, nicht einmal Klopapier hat sie!«

»Ich habe dir gestern zwei Packungen gebracht, das sind 20 Rollen!«

»Und? Was sind schon zwanzig Rollen in diesen Zeiten, Ilona, meine Freundin hat mich angerufen, dass ihre Tochter ihr 40 gebracht hat!«

»Ich kann dir ja morgen noch zwanzig bringen.«

»Nein, lieber nicht, dann steckst du dich an im Geschäft, und ich bin schuld!«

»Was brauchst du sonst noch, ich kann dir die Reste von unserem Mittagessen bringen, dann brauchst du nicht kochen.«

»Die Reste? Mein Sohn bringt mir die Reste? Du bringst deiner Mutter das was übrig bleibt?«

»Wir können dir auch was extra kochen, sag doch einfach, was du willst!«

»Ach lass, ich mach eine Fischdose auf, und Brot hab ich noch, das genügt doch, Hering in Tomatensoße, mein Mittagessen heute, ich will euch keine Umstände machen, deine alte Mutter schafft das schon alleine.«

»Mama, beruhige dich doch. Warst du heute schon draußen?«

»Einmal ums Haus bin ich gegangen, mehr darf ich doch nicht, hast du gesagt.«

»Du kannst auch länger gehen oder in die Bäckerei. Hast du dir nachher, zu Hause, die Hände gewaschen?«

»Ich wasch‘ den ganzen Tag die Hände, sie sind schon so rau, dass ich ohnehin auch ohne Virus niemandem die Hand geben würde.«

»Hast du einen Kuchen zu Hause und genug Kaffee?«

»Kuchen soll ich essen, ist doch alles vergiftet? Da muss ich doch zum Bäcker einen kaufen, keiner sagt mir, was ich essen darf, ich kenn mich überhaupt nicht mehr aus!«

»Du kannst alles essen, auf den Lebensmitteln sind keine Viren, ich kann dir morgen einen Kuchen bringen.«

»Na, wenn ich alles essen kann, könnt ich doch auch bei euch essen, warum sitz‘ ich hier allein in der Wohnung?«

»Es geht um die sozialen Kontakte, die sind gefährlich!«

»Soziale Kontakte, wenn ich das schon höre, meine Enkelkinder sehen, das ist doch kein sozialer Kontakt, ich könnt mir doch die Hände waschen nachher, David mach doch was, ich komm um hier allein!«

»Es tut mir ja leid, Mama, aber ich kann auch nichts machen.«

»Nichts machen, nichts machen … du bist doch Arzt, alles haben wir uns vom Mund absparen müssen, um dich studieren zu lassen, was hab‘ ich alles geopfert, und jetzt kannst du mir nicht helfen?«

»Isolation ist das einzige, was hilft, du willst doch nicht, dass dich deine Enkelkinder anstecken!«

»Na und wenn schon, sterben muss ich ohnehin, dann schon wenigstens durch meine Enkel.«

»Jetzt hör doch auf Mama, wie kannst du so reden!«

»Gehst du noch arbeiten?«

»Ja, morgen früh muss ich ins Krankenhaus, wir müssen alle jetzt arbeiten.«

»Besuch doch meine Freundin Ilona, und schau sie dir an.«

»Hat sie Beschwerden, Husten oder Fieber?«

»Der Allmächtige soll sie beschützen, natürlich hat sie keine Beschwerden, sonst würde ich doch nicht hinschicken!«

»Warum soll ich dann hin zu ihr?«

»Na, zur Sicherheit, du kannst sie ja kontrollieren, dann fühlt sie sich besser, und ich hab‘ ihr meinen Sohn, den Arzt geschickt!«

»Mama, ich hab‘ keine Zeit für solche Spielchen, ich hab genug zu tun im Spital!«

»Spielchen, meine Freundin ist kein Spielchen!«

»Ich verspreche dir, wenn sie Symptome hat, dann besuche ich sie!«

»Untersteh‘ dich, nicht einen Schritt in ihre Wohnung, wenn sie krank ist! Willst du meine Enkel gefährden?«

»Mama, dafür bin ich Arzt geworden, um anderen zu helfen!«

»Du bist Arzt geworden, um deine Mutter stolz zu machen, was hat sie sonst vom Leben, dein Vater hat mich verlassen, deine Schwester ruft nie an, wenigstens kann ich sagen, mein Sohn, der Doktor, ja der kümmert sich um mich.«

»Ist ja gut Mama, ich ruf dich später noch an, bevor du schlafen gehst.«

»Warte, es hat geläutet, ich schau einmal, aber bleib am Telefon, in diesen Zeiten jetzt, wer weiß, wer das ist … ah, Ilona und Jakob, das ist schön, dass ihr da seid …«

»Mama, was soll das, wieso kommen die dich besuchen! Mama, hörst du mich!«

»Kommt doch herein … kommt doch … David ich kann jetzt nicht reden, ich hab‘ Besuch!«

»Mama, schick sie nach Hause, das ist doch Wahnsinn, dass sie jetzt zu dir kommen!«

»Was hast du gesagt, David … Ilona, schalte den Kaffeeautomaten, ja, der schwarze Knopf, drück ihn einfach, und den Kuchen gib auf einen Teller, ich muss nur schnell mit David reden, du weißt, er ist Arzt und hat so viel zu tun jetzt und kann kaum mit mir sprechen! … David bist du noch dran?«

»Mama, schick sie nach Hause, das kannst du doch nicht riskieren jetzt!«

»Ach David, mach dir keine Gedanken, es ist doch Sonntagnachmittag und Bridge-Time, Sami wird auch noch kommen, und wir werden spielen wie jeden Sonntag, und wenn er uns auffrisst, der verdammte Virus, dann ist es HaSchem, der entscheidet, was haben wir schon zu sagen!«

»Mama! Jetzt hör mir einmal zu … verdammt, sie hat wirklich aufgelegt!«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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