FREMDHEIT IN DER EIGENEN HEIMAT

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Photo: Jacqueline Godany (cropped), © Alle Rechte vorbehalten

Meine Jahre mit Haider (4)

Im Frühjahr 1996 bat mich Jörg Haider, mich endlich zu entscheiden, da die EU-Wahl am 13. Oktober stattfinden würde. Er hätte mehrere unabhängige Kandidaten gefunden, die bereit wären mitzuarbeiten, darunter ein prominenter Richter und ein ORF-Journalist. Ich sagte zu.

Nur ein kleiner Kreis in der Partei wusste davon. Haider wollte mich als Überraschung präsentieren, und tatsächlich war bis zur Pressekonferenz zur Vorstellung der Kandidaten kein Wort in den Medien erschienen. Auch in der FPÖ wussten nur wenige davon, und die kleine Gruppe um Haider verzichtete darauf, mich auf die kontroverse Positionierung in Wien vorzubereiten. Ich kam direkt aus den USA zur Pressekonferenz, stand dort zum ersten Mal als Politiker und versuchte, so gut es möglich war, die Fragen der Journalisten zu beantworten und auf ihre Kritik und Angriffe einzugehen.

Abgesehen von den politischen Gegnern der FPÖ, war mir klar, dass die Jüdische Gemeinde auf meinen Entschluss nicht gerade mit Begeisterung reagieren würde. Ich suchte den damaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde auf, erklärte ihm unter vier Augen was ich vorhätte, und bat ihn, daraus kein »jüdisches Problem« zu machen. Er war nicht begeistert über meine Entscheidung, versprach jedoch, sich in der Angelegenheit zurückzuhalten, warnte mich allerdings, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange Präsident sein werde. Was danach komme, könne er nicht beeinflussen.

Während der Pressekonferenz fragte mich einer der Journalisten, ob mein Vater von der Kandidatur wisse, und was er dazu sagen werde. Während ich ihm zuhörte und ihn beobachtete, wie er sich mehr und mehr aufregte, immer wieder aufstand und sich setzte, erinnerte ich mich an Überlegungen, die mich schon früher beunruhigt hatten. Die Sache werde nicht so einfach ablaufen, wie es sich sowohl Haider, seine Kollegen und auch ich mir vorgestellt hatten. Dabei ging es weniger um politische Inhalte. Einige Journalisten konnten ihren Ärger immer weniger kontrollieren und konfrontierten mich mit dem Vorwurf, wie ich als »Jude« so eine Entscheidung treffen könne. Es grenze an »Verrat des Judentums«, sich einer rechten Partei zur Verfügung zu stellen oder mit ihr zu kooperieren, meinte einer. Bereits hier kündigte sich eine Ebene der Kritik an, die mich während meiner politisch aktiven Zeit und auch danach begleitete: Was darf man in Österreich als Jude, und was nicht.

Als die Situation mehr und mehr emotional wurde und sich von der realen Politik entfernte, unterbrach Haider die Pressekonferenz. Viele der Journalisten wollten dennoch weiter Fragen stellen, doch sie wurden vertröstet und man bat sie, sich bei der Partei zu melden für individuelle Interviews.

»Komm, wir müssen weiter!«. sagte Haider plötzlich.

»Was heißt weiter, mir reicht es eigentlich für einen Tag«, antwortete ich ihm.

»Das war erst der Anfang hier. Jetzt fahren wir in die Stadthalle! Dort findet unser Pensionisten-Treffen statt und du bist als Redner angekündigt. Aus ganz Österreich sind Gruppen angereist und die warten jetzt auf dich.«, sagte er.

Irgend etwas verkrampfte sich in mir, und irritierende Gedanken schossen mir durch den Kopf. FPÖ-Pensionisten? Alte Männer und Frauen, die sich den Freiheitlichen angeschlossen hatten? Da blieb nicht viel Platz übrig für Zweifel.

»Ich bin auf das nicht vorbereitet, das hättest du mir früher sagen müssen!« fuhr ich ihn an. Doch er ließ sich nicht beirren, wiederholte immer wieder, dass ich damit schon fertig werden würde und ließ sich von mir nicht überzeugen, dass es einfach eine schlechte Idee sei. Wir fuhren zur Stadthalle und schwiegen während der Fahrt. Ich war in Panik. Worüber sollte ich dort sprechen? Durch einen Seiteneingang erreichten wir die Halle in der eine erschreckend große Menge an alten Menschen saß, mit Fahnen, Wimpeln und Bannern, nach Bundesländern und Städten aufgeteilt.

Jörg Haider ging zum Rednerpult und erklärte, dass wir direkt von der Pressekonferenz kommen würden. Es stellte sich heraus, dass die Teilnehmer meinen Namen nicht kannten, und ich ihnen als »Überraschung« angekündigt worden war. Im Saal war es beklemmend ruhig. Niemand klatschte, niemand sprach, und als ich langsam zum Pult ging, hatte ich das Gefühl als würden sie mich anstarren wie eine wiederentdeckte ausgestorbene Tierart.

Wie schon erwähnt, bin ich seit meiner Kindheit ein Fan von Franz Kafka. Seine Geschichten und die Symbolik in seinen Texten halfen mir schon oft, wenn mir nichts anders einfiel. So begann ich auch dort, den mich fixierenden Pensionisten ein kurzes Prosastück von Kafka zu beschreiben. In dem Text »Die Brücke« geht es um eine Brücke, die verzweifelt auf den ersten Menschen wartet, der sie endlich betritt. Als er kommt und mehrmals auf der Brücke springt, schmerzt es die Brücke furchtbar. Vor lauter Neugierde, den Menschen zu sehen, dreht sich die Brücke, zerbricht und stürzt ein.

Ich übertrug die Brücken-Symbolik auf die Pensionisten und ihre Verantwortung, verglich ihr Leben, mit den Füßen in der Diktatur und den Händen in der Demokratie, mit einer Brücke, die an den Enden in den beiden Ufern eingegraben ist. Wie bei Kafkas Brücke sei es oft mühsam und schmerzhaft, eine Verbindung zwischen verschiedenen politischen Systemen zu bilden und erfordere Geduld, um nicht vor lauter Ungeduld die Verbindung einstürzen zu lassen.

Meine ganze Rede dauerte nur ein paar Minuten. Im Saal war es so ruhig, als wären alle eingeschlafen, aber sie waren hellwach. Ich sah hunderte oder tausende Augen auf mich gerichtet und wieder klatschte keiner. Für einen Moment stand ich schweigend vor ihnen und beobachtete sie. »Wie viele von euch waren bei der SS, Offiziere bei der Wehrmacht, Bund Deutscher Mädel oder Wachpersonal in einem Konzentrationslager?«, ging mir durch den Kopf. Dann begannen einige zögernd zu applaudieren.

Die Rede hatte mich wahrscheinlich mehr mitgenommen als alle Pensionisten im Saal. Es war, als hätte ich ihnen die Hand gereicht, die keiner ergriff, und sie würden mich einfach stehen lassen mit ausgestrecktem Arm.

In kaum einer anderen Situation wurde mir die Fremdheit gegenüber der Bevölkerung meiner eigenen Heimat so bewusst wie nach dieser Rede vor den Pensionisten.

Dies ist die vierte von Peter Sichrovskys neun Erzählungen rund um die Zeit, in der er in der FPÖ aktiv war.

Teil 1: »Nur eine Frage«
Teil 2: »Dann müssen Sie halt auf mich aufpassen!«
Teil 3: »Und wenn’s schief geht, bist du schuld!«
Teil 5: Brüssel, die kleine Welt der großen Eitelkeiten
Teil 6: Der Höhepunkt des Erfolgs und denkwürdige Reisen
Teil 7: Meine Funktion als jüdische Angelegenheit
Teil 8: Diktatoren und ein Sonderkonto. Der Absturz.
Teil 9: Gescheitert. Das Ende und die Zeit danach.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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