ERINNERUNG AN MEINE SCHUL-SCHIKURSE

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Früher war nicht alles besser, nur alles anders

Es passierte in der zweiten, dritten und vierten Klasse Unterstufe während meiner Zeit im Gymnasium. In der Woche vor dem Schikurs lud der Klassenvorstand gemeinsam mit dem Turnprofessor zur Vorbereitung die Eltern ein – einer dieser gefürchteten Elternabende, an denen Väter und Mütter erleben konnten, wie Lehrer einst Wichtigkeiten erklärten und Disziplin einforderten. Meine Mutter hasste diese Abende. Mein Vater weigerte sich, daran teilzunehmen und jedes Mal, wenn meine Mutter nach einer solchen Belehrung nach Hause kam, hatte sie etwas mehr Verständnis für meine Abneigung gegen Schule und Lehrer. Doch mir war das alles im Grunde genommen völlig egal, denn die Schul-Schikurse erlebte ich als absolute Höhepunkte der Schuljahre. 

Über die Ausrüstung damals würden Schifahrer heute nur mehr lachen und sie vielleicht im Museum eines Schiorts bewundern, als hätte sie irgendein Sammler aus dem Mittelalter gerettet. Schwere Lederschuhe, mühsam geschnürt und geknotet, derart fest um den Fuß, dass der Schmerz schon im Schistall begann und nicht mehr aufhörte, bis man sie dort wieder ausgezogen hatte. Holzschi, etwas länger als man selbst mit eisernen Bindungen, in die man mit der Spitze des Schuhes nach vorn rückte und hinten an der Ferse ein Metallseil hochzog, dann dieses Metallseil mit einer Klappe nach vor kippte und so den Schuh praktisch auf dem Schi festnagelte. Bei jedem Sturz zeigte der Fuß seine Loyalität gegenüber dem Schi anstatt dem Schifahrer und weigerte sich, auch nur einen Millimeter nachzugeben und eher das Bein brechen, als es loszulassen. Diese Bindungen gingen einfach nie auf. 

Die Bekleidung entsprach den finanziellen Verhältnissen des Elternhauses. Meist dicke, wollene Hosen, die man nur mit langen Unterhosen tragen konnte. Nicht weil sie zu wenig wärmten, sondern der Stoff kratzte auf der zarten, kindlichen Haut an den Innenseiten der Oberschenkel, sodass man, falls man auf den Schutz durch Unterhosen verzichtete, am Abend kaum mehr gehen konnte, so rot und entzündet war die Haut an diesen Stellen. Dazu eine Jacke, die eben eine Jacke war und kein Anorak und nichts Vergleichbares mit moderner Ausrüstung. Die Eltern, oft in Panik, dass ihre Kinder erfrieren würden, kauften nach Wärmeschutz und nicht nach möglicher Beweglichkeit in der Kleidung. Nicht zu vergessen die Wollhauben, die über die Ohren reichen mussten und durch die der Wind durchblies, als wären sie ein Sieb für die Trennung von Spagetti und heißem Wasser. Fäustlinge natürlich, auch die aus reiner Schafwolle, die nach dem zweiten Sturz so nass waren, dass man sie auswinden musste, bevor man sie wieder anzog. 

Die absolute Katastrophe brach über uns Kinder herein, wenn es schneite, was damals öfters vorkam als heute. Die weiten Wollhosen, Hauben, Fäustlinge und dicken Jacken schienen sich zu freuen über den Schnee und saugten sich voll, als würden sie verdursten, wurden schwerer und schwerer, bis man ein paar Liter Wasser versteckt in der eigenen Kleidung mit sich herumschleppte.

Doch das alles machte uns nichts aus. Wir schliefen zu zwanzig in einem Raum mit Stockbetten, hatten zwei Toiletten und vier Waschbecken. Die eine Dusche durften nur die Lehrer benutzen. Wählte man das untere Bett, so rieselten der Staub und auch feiner Sand aus der Rosshaar-Matratze des oberen Betts, doch mit ein paar Wischbewegungen über das Leintuch war das Bett wieder sauber. Falls der oben Schlafende sich während der Nacht zu viel bewegte, konnte man ihn mit ein paar Fußstößen in seinen Rücken daran erinnern, dass er nicht alleine sei in diesem Bett. Schlief man oben, so war der Plafond meist so knapp über dem Bett, dass es einer gewissen Kunstfertigkeit bedarf, unter die Decke zu rutschen, ohne sich den Kopf anzuschlagen. Das Bettzeug einfach und praktisch. Zwei Leintücher, eines über die Matratze, eines unter der Wolldecke, und ein Polster mit Stroh gefüllt, wo einzelne Halme durch den Überzug einem ins Gesicht stießen.

Am Morgen fröhlich und ausgeruht, da man mit den anderen bis spät und die Nacht herumgeblödelt hatte und Geschichten erzählte, ging es zum Frühstück mit Marmelade-Broten ohne Butter und einem Kakao dazu, der noch ein richtiger Kakao war und keine heiße Schokolade, oder Tee mit Zucker ohne Milch, über den bei einem der Schikurse der Witz erzählt wurde, ein Schüler habe ihn heimlich in ein chemisch-medizinisches Labor zur Untersuchung geschickt. Das Labor hätte geantwortet: »Ihr Pferd ist zuckerkrank.« Unsere Lehrer fanden den Witz nicht besonders lustig.

Punkt neun Uhr sammelten wir uns vor dem Haus und gingen etwa eine halbe Stunde durch den Schnee mit den Schiern auf den Schultern zum Schilift. Dort angekommen, kam es zur gefürchteten Gruppeneinteilung. Da immer nur ein Turnlehrer mitfuhr und die anderen Schilehrer Mitglieder des Lehrpersonals waren, von Geographie bis Mathematik, und wenig Ahnung vom Schifahren hatten, musste man versuchen, in die erste Gruppe aufgenommen zu werden. Alles andere waren dann eher Schispaziergänge als richtiges Schifahren. 

Das Einteilen spielte sich so ab: Wir Schüler mussten den Hang hinaufsteigen, mit den Schien quer zum Hang, Schritt für Schritt durch den tiefen Schnee nach oben, den Lift durften wir erst nach der Gruppeneinteilung benutzen. Oben angekommen, atemlos, völlig erschöpft und verschwitzt standen wir in einer Reihe, einer neben dem anderen, bis wir aufgerufen wurden und ein paar Bogen nach unten in Richtung Turnlehrer fahren sollten, der dort breitbeinig und aufrecht stand, mit drohend erhobener Hand, die entweder nach rechts oder links wies, das bedeutete zweite oder dritte Gruppe, oder die Auserwählten neben sich in Gruppe eins stehen ließ.

Wie bereits beschrieben, erlebten wir diese Einteilung, die meist einen halben Tag dauerte, als besonders aufregend, wenn es schneite. An einen Schikurs erinnere ich mich, als das Schneetreiben so stark war, dass wir oben am Hang angekommen, wo ein Lehrer stand, der uns einer nach dem anderen zum Turnlehrer hinunterschickte, wir diesen jedoch nicht mehr sehen konnten und so die einzelnen Schüler plan- und ziellos in der Gegend herumfuhren und die meisten von ihnen stützen und es ein paar Stunden dauerte, bis die Lehrer wieder alle gefunden hatten. 

Nach der Einteilung ging es zurück zu unserem Haus für das Mittagessen. Wieder eine halbe Stunde mit den Schien am Rücken. Dort wartete bereits ein Topf mit Gulaschsuppe auf jedem Tisch und ein Apfel als Nachspeise, und dann marschierten wir, jetzt bereits in Gruppen aufgeteilt, zurück zum Schihang.

Da ich bereits im Kindergarten mit dem Schifahren begonnen hatte, schaffte ich meist die Gruppe eins mit dem Turnprofessor als Schilehrer. Der hatte eine interessante Idee, wie die Gruppe funktionieren sollte. Jeder bekam eine Nummer und sollte immer hinter dem Schüler mit der niedrigeren Nummer fahren. Mir gab er bei jedem Schikurs die letzte Nummer mit dem Hinweis, ich sei ein guter Fahrer und sollte daher als Letzter ankommen, dann wüsste er, dass keiner fehlen würde. Das führte dazu, dass ich bei jedem, der stützte, stehen bleiben und warten musste, während der Herr Professor stolz schwingend die Hänge hinunter raste, ohne sich umzudrehen oder zu warten, und seine besonderen Lieblinge mit den niedrigen Nummern in der Gruppe ihm dicht dahinter folgten. Alles hatte seine Ordnung und vor allem seine Hierarchie.

Das Abendessen sehr ähnlich dem Mittagsmahl, manchmal ein paar Frankfurter Würstel im Gulaschsaft der übrig gebliebenen Gulaschsuppe von mittags, Kartoffeln mit Kohl, Spinat mit Spiegelei und wieder Kartoffeln, und einmal pro Woche ein Stück gebratenes Huhn. Abends ein fröhliches Zusammensein mit Gitarrenspiel und Tiroler Liedern, und ein bis zweimal die Woche nach einem Prinzip der Zufälligkeit mit Losziehen den Zwang einer Vorstellung jedes Einzelnen vor allen Lehrern und Schülern mit Singen oder Gedicht aufsagen oder sonst einer Peinlichkeit.

Und dennoch, wir alle sehnten uns das ganze Jahr nach diesem Schikurs, kamen meist abgemagert und müde zurück, sodass unsere Eltern manchmal erschraken, wenn sie uns vom Bahnhof abholten. Doch die Aggressivität und Strenge der Lehrer und die schwierigen Bedingungen schufen ein besonders Verhältnis der Schüler untereinander, und die unausgesprochene Verständigung, wir würden uns von denen nicht unterkriegen lassen.

Meine Eltern schickten mich schon in der Volksschule auf Weihnachts-Schikurse, viele Jahre vor den offiziellen Schul-Schikursen. Die Weihnachts-Kurse dauerten meist 10 Tage. Von einem dieser Kinder-Schikurse kam ich derart dünn zurück, dass meine Mutter, so erzählte sie mir Jahre später, die Tage danach Schlagobers in den Spinat rührte, um mich wieder aufzupäppeln. Als sie damals meinen Rucksack öffnete, um ihn auszuräumen und die Wäsche zu waschen, sei sie über den Gestank erschrocken, der aus dem Rucksack kam, bis ich ihr gestehen musste, dass ich das Essen bei jeder Mahlzeit in meine Hosentaschen gestopft hatte, weil es einfach ungenießbar gewesen sei, und wir dennoch den Tisch nicht verlassen durften bevor nicht alles aufgegessen war.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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