EIN UNERHÖRTES EXPERIMENT

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Familientausch für bessere Noten

Ash Ali ist ein verdächtiger Name, selbst in Großbritannien, wo traditionelle britische Familiennamen mehr und mehr verschwinden, und die zweite und dritte Generation der Einwanderer sich (wenn sie wollen) Schritt für Schritt einen Platz in der Gesellschaft erarbeiten.

Über seine Biographie ist kaum etwas zu finden im Internet, einzig seine Rede als er vor ein paar Jahren Direktor der ‚Chessington Community School’ in Kingston upon Thames südlich von London wurde, und mit ein paar Worten ankündigte, seine Schule zu einer der besten in dem Bezirk zu machen. Nächste Woche werden Ash Ali mehr Menschen in Großbritannien kennen, vielleicht mehr als ihm lieb ist, denn BBC widmet ihm eine ganze Dokumentation über seinen Lehr- und Organisationsstil, der die Leistungen der Schüler und Schülerinnen in seiner Schule so sehr beeinflusste.

It’s the family, stupid

BBC nannte es ‚Living with the Brainy Bunch’, in Anspielung auf eine erfolgreiche US-Serie aus den sechziger Jahren, die unter dem Namen ‚The Brady Bunch’ vom Alltag des Zusammenlebens eines alleinstehenden Vaters mit drei Söhnen und einer Mutter mit drei Töchtern handelte.

Ash Ali untersuchte über Jahre die Ursachen des Erfolgs seiner Schüler, die in der Institution, die er leitet, unabhängig von Intelligenz, völlig verschiedene Leistungen zeigen und damit auch unterschiedliche Noten bekommen. Da er jedoch Kinder zwischen 11 und 18 Jahren betreut, bedeuten schlechte Noten am Ende der Schulzeit auch geringere Chancen für einen Platz in einem College oder einer Universität. Lernklassen an Nachmittagen, extra Zeit während der Ferien und mahnende Worte halfen nichts, so entschloss er sich, ein Experiment zu wagen, das wohl einmalig in der Schulgeschichte Großbritanniens ist.

Während einer Elternkonferenz konfrontierte er seine Zuhörer mit dem Vorwurf, dass Lernerfolg weniger von der Lernbereitschaft der Schüler, als vom Verhalten der Eltern abhängig sei. Durch Befragungen der Schüler und Analysen zahlreiche Aufsätze über den Alltag zu Hause sei ihm der Unterschied zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Schülern aufgefallen.

Er schlage daher vor, dass Schüler mit geringem Erfolg in der Schule für ein paar Wochen von Familien aufgenommen werden, deren Kinder extrem gute Noten haben.

Einige Eltern lachten laut auf, andere meinten, sie hätten bereits genug zu tun mit Beruf und Kindern und könnten sich nicht vorstellen, eine weitere Belastung anzunehmen. Andere wieder wiesen den Vorschlag empört zurück mit dem Argument, sie würden ja genügend Steuern zahlen, damit die Schule auch die Verantwortung für die Ausbildung der Kinder übernehme. Doch erstaunlicherweise fanden sich genügend Eltern von erfolgreichen Schülern und Schülerinnen, die begeistert dem Vorschlag zustimmten und sich bereit erklärten, andere Kinder aufzunehmen.

Erfolg durch strukturierten Alltag

Der 15 Jährige Jack war einer der ersten, der die Familie wechselte. Seine Mutter arbeitet als Krankenschwester in einem Schichtbetrieb, ist manchmal die ganze Nacht und oft auch am Wochenende nicht zu Hause. Jack geht nie vor Mitternacht zu Bett, manchmal wird es auch zwei Uhr morgens, wenn er von einem Video-Spiel nicht loskommt, oder er bleibt er die Nacht weg und geht mit Freunden aus. Wenn dann noch Zeit bleibt, macht er Hausübungen oder lernt für Prüfungen.

Seine neue Familie kommt aus Sri Lanka. Priyanka, die Mutter und Chefin der Familie, weckt Jack jeden Morgen eine Stunde bevor er das Haus für die Schule verlassen muss. Sie bereitet ihm ein Frühstück und nahm ihm gleich am ersten Tag, während er gemeinsam mit Tharush, dem erfolgreichen Sohn Pryankas und Klassenkameraden Jacks, Eier und Toast aß, das Mobiltelefon weg. »Sprich mit uns und schau nicht auf dein Telefon«, sagte sie zu ihm.

Bettruhe war punkt 22.30. Kurz vorher nahm sie alle elektronischen Geräte inklusive Laptop und Handy aus seinem Zimmer. Auf Jacks anfängliche Proteste antwortete sie, sie sei vor 25 Jahren aus Sri Lanka gekommen, und sie und ihre Familie seien dankbar für die Möglichkeiten hier. Sie schlage vor, Jack sollte für ein paar Wochen in den Dreck übersiedeln, wo sie herkomme, dann würde er verstehen, was für ein privilegiertes Leben er habe.

Nach nur einer Woche ging Jack um 22.30 zu Bett, stand jeden Morgen ohne Proteste und Gejammer auf, kam pünktlich zur Schule und genoss die gemeinschaftlichen Abendessen, an denen gelacht oder gestritten wurde, ohne dass jemand auf sein Handy starrte.

Nach weiteren drei Wochen erreichte er die doppelte Punkteanzahl bei einem Mathematik- und einem Englisch-Test wie zuvor. Und – was seine Mutter am meisten erstaunte – er hatte auch noch Spaß beim Lernen und freute sich über seine guten Noten.

Hollie, eine Klassenkameradin von Jack übersiedelte ebenfalls in eine andere Familie und zeigte ähnliche Ergebnisse. Die 15 Jährige Hollie hatte die Angewohnheit, die Klassen zu verlassen und in der Schule herumzuspazieren, da sie sich – wie sie meinte – im Unterricht langweilen würde.

Kirsten und David, Hollies neue Eltern, konfrontierten Hollie und die eigenen Tochter Holly, die in die selbe Klasse ging, während des Abendessens mit Fragen über den Unterrichtsstoff und diskutierten über Literatur, Geschichte und Politik. Hollie fühlte sich mehr und mehr ausgeschlossen, da sie den Unterricht verlassen hatte und nicht mitreden konnte. Sie gab ihr Herumwandern bald auf, und beteiligte sich mehr und mehr an den Gesprächen.

Auch in Hollies Kurzzeit-Familie gab es strenge Regeln über Bettruhe, gemeinsamem Essen, Hausaufgaben und Lernzeiten. Was zu Beginn wie ein unerträglicher Zwang wirkte, veränderte sich zu einem akzeptablen Alltag, der ein System der Ordnung und Ruhe vermittelte und alle Kinder, die bisher an dem Experiment teilgenommen hatten, verbesserten ihre Schulleistungen.

Zwang und Chance

Ash Ali verteidigt sein Experiment gegen Kritiker, die ihm vorwerfen, er würde eine Militarisierung der Erziehung und Entwicklung versuchen durchzusetzen, das die Kreativität und Eigenständigkeit der Kinder negativ beeinflusse. Er behauptet, das Gegenteil sei der Fall. Nicht zu Essen und nicht zu Schlafen und viele Stunden mit Computerspielen zu verbringen, sei eine Verhinderung der Entwicklung der Kinder.

Er bekommt inzwischen Unterstützung von der nationalen Schulbehörde, die andere Schulen aufforderten, seinem Vorschlag zu folgen.  Einer der Direktoren der Schulverwaltung, Barnaby Lenon, sagte in der BBC Dokumentation, Eltern müssten ihre Verantwortung wieder ernster nehmen. Es sei nicht möglich für die Schulen, die mangelnden Erziehungsmaßnahmen auszugleichen. Natürlich gäbe es extrem begabte Schüler, die ihren Weg allein finden würden. Doch die große Mehrheit benötige die aktive Unterstützung durch die Eltern.

Dass mit Ash Ali ausgerechnet ein Sohn von Emigranten den britischen Eltern nachweist, dass ein falsch verstandener Freiraum während der Kind- und Jugendzeit den erwachsenen Kindern die Chancen für ein erfolgreiches Leben nimmt, zeigt auch die Widersprüchlichkeit der Integration. Ob zugewandert oder seit ewig hier lebend, letzten Endes ist es die Entscheidung der Eltern, ob die Kinder in der alten/neuen Heimat eine Zukunft finden.

Schulen, Behörden, Lehrer und andere Institutionen können ihre Türen öffnen und Unterstützung anbieten – ob die Kinder sie nutzen, liegt zu einem großen Teil an der Motivation durch die Eltern und deren Entscheidung, Erziehung als aktiven Prozess zu erleben anstatt nur das Aufwachsen geschehen zu lassen.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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