Die beste aller Welten
Seit die damals 16-jährige Greta Thunberg mit tränenerstickter Stimme den versammelten Staats- und Regierungschefs auf dem UN-Klimagipfel 2019 in New York ihr »Wie könnt Ihr es wagen?!« entgegenschleuderte, sind die Rollen klar verteilt: Auf der einen Seite die engagierte Jugend, die leidenschaftlich für die Zukunft kommender Generationen kämpft, auf der anderen alte weiße Männer – eine Chiffre für die globale politische, ökonomische und wissenschaftliche Elite –, die den Karren an die Wand gefahren haben.
Mit der Realität hat dieses Bild kaum was zu tun: In den letzten hundert Jahren ist diese Welt zur besten geworden, in der die Menschheit je gelebt hat.
Anfang des 20. Jahrhunderts lebten auf der Erde rd. 1,5 Milliarden Menschen, eine Milliarde davon in Hunger und extremer Armut. Heute leiden immer noch 800 Millionen Hunger, das sind 800 Millionen zu viel, allerdings sind wir inzwischen fast 8 Milliarden. Im Vergleich zur Zeit, in der mein Großvater geboren ist, leben gegenwärtig also rund 6,7 Milliarden Menschen mehr, deren Tage nicht vom Hunger beherrscht werden. Immer mehr Menschen werden immer gesünder, immer älter und immer wohlhabender. Und immer mehr leben in Demokratien: waren es 1945 nur rd. 11 Prozent der Weltbevölkerung, sind es heute mehr als die Hälfte. Wenn das kein Fortschritt ist, weiß ich nicht, wie man Fortschritt definiert.
Dieser Fortschritt ist ein Verdienst all dessen, wogegen manche Jugendliche – nein, nicht alle, wir kommen später noch darauf zurück – jeden Freitag streiken: Kapitalismus, Globalisierung, Naturwissenschaften, industrielle Landwirtschaft, Gentechnik. Von allen medizinischen Innovationen hat übrigens keine mehr Menschenleben gerettet als die Impfung, aber das ist ein anderes Thema.
Also alles gut?
Mitnichten. Mehr Menschen + mehr Wohlstand = mehr Energieverbrauch. In den nächsten Jahrzehnten wird die Weltbevölkerung auf 10 Milliarden ansteigen, und der globale Aufholbedarf an Wohlstand ist enorm. Wir werden also noch viel mehr Energie brauchen als bisher, sehr viel mehr.
Die Industrie benötigt diese Energie 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, unabhängig davon, ob der Wind bläst oder die Sonne scheint. Allein Ludwigshafen, der größte Chemiestandort der Welt, werde in vier bis fünf Jahren ungefähr zehn Prozent der erneuerbaren Energie von ganz Deutschland verbrauchen, erklärte der Vorstandsvorsitzende der BASF, Martin Brudermüller, kürzlich im Gespräch mit dem Journalisten Gabor Steingart. Die vollständige Elektrifizierung der gesamten Chemieindustrie Deutschlands käme ziemlich nah an den gesamten Strombedarf Deutschlands von heute heran.
Der Exportweltmeister exportiert für den Energiebedarf seiner Industrie den CO2-Ausstoß nach Polen und das Atomstrom-Risiko nach Frankreich.
Gut gemeint geht selten gut. So hat die deutsche Energiewende nicht den CO2-Ausstoß gesenkt, sondern nur für die höchsten Strompreise Europas gesorgt. Nach dem Atom- und Kohleausstieg wird Deutschland von Kohlestrom aus Polen und Atomstrom aus Frankreich abhängig sein. Anders gesagt: Der Exportweltmeister exportiert jetzt auch noch den CO2-Ausstoß für den Energiebedarf seiner Industrie nach Polen und sein Atomstrom-Risiko nach Frankreich. Klingt nicht gerade zukunftsträchtig oder nachahmenswert.
Dennoch: An der Elektrifizierung von Wirtschaft und Mobilität mit CO2-neutralem Strom führt kein Weg vorbei. Aber nicht Aktivisten, die eine de-industrialisierte Vormoderne für ein Zukunftsmodell halten, oder Politiker, die den Applaus von den billigen Rängen suchen, werden diesen Weg begehbar machen, sondern Wissenschafter, Ingenieure und Unternehmer.
Die gute Nachricht
Sie bauen Diesel, die die Luft reinigen, und Elektroautos mit leistungsfähigeren, ressourcenschonenden Batterien, die in weniger als zehn Minuten 200 Kilometer Reichweite laden (dann ist es sinnlos, hunderte Kilo Batterie für 1000 Kilometer Reichweite mit sich herumzuschleppen). Sie erzeugen synthetischen Kraftstoff aus Wind und Sonne für die mehr als eine Milliarde Autos mit Verbrennungsmotor, die weltweit noch jahrelang auf den Straßen sein werden. Sie konstruieren sichere Atomreaktoren, für die der Atommüll von heute der Rohstoff von morgen ist. Sie schaffen Pflanzen, die sich an die klimatischen Veränderungen anpassen und die Folgen von Mangelernährung ausgleichen. Sie werden Aufgaben bewältigen, die wir heute noch nicht einmal kennen.
Nichts davon ist eine Utopie, zum Teil gibt es das alles schon, zum Teil befindet es sich in der Testphase. Und zum Teil wird es politisch verhindert. Wenn Sie wissen möchten, wie Greenpeace eine Reissorte blockiert, die hunderttausende Kinder in Asien vor Erblindung oder Tod schützen könnte, googeln Sie nach »Golden Rice«.
Geschichte ist keine Einbahnstraße in Richtung Fortschritt. In welche Richtung wir abbiegen, liegt an uns.
Die Jungen haben Recht
Der Klimawandel ist ein globales Phänomen. Der Anteil der Europäischen Union am weltweiten CO2-Ausstoß beträgt weniger als 10 Prozent (Deutschland rd. 2%, Österreich 0,2%), Tendenz sinkend. Auf nationaler oder kommunaler Ebene bedeutet Klimaschutz zuerst einmal Schutz vor dem Klima. Keiner der mehr als 200 Toten der deutschen Flutkatastrophe im Juli wäre noch am Leben, hätte das Land hundert Windparks mehr gebaut. Alle könnten noch leben, hätte es für ein effizientes Frühwarnsystem gesorgt.
Wir können das Klima nur beeinflussen, wenn wir über unsere Grenzen hinaus denken und agieren. Gerade die reichen Volkswirtschaften sind gefordert, skalierbare Modelle und Technologien zu entwickeln, die auch in anderen Weltregionen umsetzbar sind. Dazu müssen wir auf unsere Stärken setzen: Forschung und Entwicklung, Kapital, freies Unternehmertum.
Für den Großteil der Jugend ist der Weltuntergang übrigens kein Thema. »Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz identifiziert sich mit Fridays for Future, noch geringer ist der Anteil derjenigen, die sich in der LGBTQ+-Community wiederfinden«, fasst Konrad Paul Liessmann in der Wiener Zeitung eine aktuelle Studie des Instituts für Jugendkulturforschung über das Lebensgefühl der 16–29-Jährigenzusammen. Die Jungen haben recht. Der Weltuntergang findet nicht statt.
Quellen:
https://ourworldindata.org/extreme-poverty
https://ourworldindata.org/a- history-of- global-living-conditions-in-5-charts
Zuerst veröffentlicht im Magazin WIENER.
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