KEIN RECHT AUF VERGESSEN?

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Photo: K. Weisser, CC BY-SA 2.0 de

Die Kunst des V-erinnerns

»Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt« – ist einer der Lieblingssätze der ähnlich sprechenden Nachbarn, die dann gleich im nächsten Satz auf Österreich verweisen, dessen Bevölkerung im Gegensatz zu ihnen eben nichts gelernt hat. Eine Entwicklung, auf die Deutschland  stolz ist, auch wenn dieser Lernprozess die Hälfte meiner Familie das Leben gekostet hat. Aber vielleicht sind manchmal für eine gute Sache auch Opfer notwendig.

Mit der Erinnerung alleine ist es jedoch nicht getan, die musste auch gesetzlich verankert werden. Deutschland hat ein Gesetz gegen die »Auschwitz-Lüge« verabschiedet. Wer das nicht versteht, dem könnte man es so erklären: Deutschland hat Auschwitz geplant, gebaut, betrieben und bestraft heute jeden, der behauptet, es hätte Auschwitz nie gegeben. Diese Erinnerung darf ihnen per Strafandrohung niemand streitig machen.

Deutschland (und auch Österreich) haben dann noch Gesetze gegen »Wiederbetätigung«. In Österreich heißt es »Verbotsgesetz«. Man darf zum Beispiel den Holocaust nicht leugnen oder ihn verharmlosen. Man darf auch nicht den rechten Arm zum Hitlergruß heben und keine NSDAP und keine SS gründen. Eine lange Liste von Verboten sollte die Grundlage einer erfolgreichen Entnazifizierung werden, die dann so lückenhaft und inhaltslos durchgesetzt wurde wie auch das Gesetz formuliert ist.

Antisemitismus ist nicht verboten

Ein Begriff kommt allerdings im ganzen Gesetzestext gegen die NS-Wiederbetätigung nicht vor: Der Antisemitismus.

Natürlich könnte man argumentieren, dass ein Verbot der NSDAP und all der anderen NS-Organisationen auch die Ideen und Theorien dieser Gruppen betrifft. Doch hier spießt es sich, denn man benutzt die Ideologie und auch die Definition der Nationalsozialisten, um ihre Opfer zu beschützen. Alle anderen Gesetze in diesem Zusammenhang sind dann eher ein Interpretationsproblem der zuständigen Richter.

Dadurch wurde das Problem des Antisemitismus auch auf juristischer Eben eine Sache der Auslegung. So konnte ein Gericht in Deutschland zwei Attentäter freisprechen, die eine Brandbombe gegen eine Synagoge warfen, mit der Begründung, es sei nur ein übertriebener Protest gegen Israel gewesen. So können Palästinenser und andere Gruppen unter dem Schutz der örtlichen Polizei durch Städte in Deutschland und Österreich marschieren und »Juden ab ins Gas« brüllen. All das fällt nicht unter das Verbotsgesetz.

Erinnerungen

Meine Mutter Lotte Kafka und ihre Mutter, meine Großmutter Edith Kafka und einem Bergführer. Meine Mutter konnte mit 16 Jahren von Prag nach England fliehen, ihre Mutter blieb zurück und wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Gehen wir ein paar Jahrzehnte zurück ins Jahr 1982. Ich lebte damals in Berlin. An einem sonnigen Nachmittag saß ich mit meiner Freundin im Vorgarten eines Cafés. Am Tisch neben uns ein Ehepaar. Der kleine Sohn der beiden spielte am Boden zwischen den beiden Tischen. Dann zerbrach sein Auto, mit dem er auf und ab fuhr und dazu brummende Geräusche machte. Die Räder fielen heraus und mit dem hin und herfahren war es vorbei.

Der Kleine fing zu Weinen an. Seine Eltern sprachen weiter und ignorierten ihn. Das Weinen des Buben wurde lauter, bis ich kaum mehr mit meiner Freundin sprechen konnte, und so beugte ich mich hinunter und reichte ihm eine Brezel aus dem Korb auf unserem Tisch.

»Verdammt noch einmal!«, schrie mich jetzt der Vater an und nahm seinem Sohn die Brezel aus der Hand. »Was mischen Sie sich hier ein! Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Sachen!«, schrie er weiter. Einen Moment lang reagierte ich nicht, sah auf den schreienden Sohn und dann wieder auf den schreienden Vater, bis mir irgendwie in meinem Gehirn eine Sicherung durchbrannte und auch ich zum Schreien begann, und ich möchte hier lieber nicht Wort für Wort wiedergeben, womit ich die den Vater konfrontierte…

Alle Assoziationen und Vergleiche mit dem Damals gingen mir durch den Kopf. Ich beschuldigte den Vater sich typisch für einen Deutschen zu verhalten, der seinem eigenen Vater gleiche, der wahrscheinlich ein KZ-Wächter gewesen wäre. Und so ging es weiter mit meinen »Erinnerungen«, die ich wie eine heiße Nadel in meinem Hirn mit mir herumtrage, und die nie zu erkalten scheint. Die Familie mit dem brüllenden Sohn verließ fluchtartig das Lokal, und der Besitzer bat auch mich zu gehen.

Ein paar Wochen später stand ich wartend an der Kasse in einem Supermarkt. Wie in Berlin damals üblich tippte die Verkäuferin an der Kasse den Wert der Lebensmittel ein und schob sie dann neben sich in eine Ablage, eine nach der anderen, wo ich verzweifelt versuchte, eine Plastiktüte zu öffnen, um auch alles verstaut zu haben, bis der nächste Kunde an der Reihe ist – ein aussichtsloses Unterfangen.

Neben mir stand eine ältere Frau, die mir ungeduldig zusah, weil sie ihre drei Sachen aus dem Korb erst bezahlen konnte, bis ich fertig war. Offensichtlich hatte mein Wiener Akzent ihr die letzte Geduld geraubt, und sie sagte, wahrscheinlich eher scherzend: »Wenn sie in Berlin leben wollen, dann müssen sie zumindest lernen, wie man eine Plastiktüte öffnet«.

Wieder reagierte ich mit einem Schreianfall und den üblichen Vorwürfen in Bezug auf die Vergangenheit der alten Frau. »Ex-HJ-Mädchen« war noch eine der Freundlichkeiten, die ich ihr an den Kopf warf.

Eine verlorene Generation

Warum nur diese Anfälle, frage ich mich immer wieder? Warum ständig das Zurückgreifen auf die Nazi-Zeit in Konflikten, wenn es um Deutsche oder Streit in Deutschland geht? Warum diese Vorwürfe, unbewiesen, pauschalierend und wahrscheinlich in den meisten Fällen ungerecht und verletzend?

Wir sind eine verlorene Generation, weil man uns das Vergessen verbietet.  Während unsere nicht-jüdischen Altersgenossen sich im Vergessen üben, wenn es um die Täter von damals geht, werden wir als Nachkommen der Opfer nicht in Ruhe gelassen. Man lässt es nicht zu und zwingt uns in die Erinnerung mit Gedenktagen, Erinnerungsmärschen, Filmen, Publikationen und den Erzählungen der Überlebenden. Die Lebensnotwendigkeit des Vergessens, ohne die es weder Gegenwart noch Zukunft geben kann, wird uns verweigert.

Es ist notwendig, erklärt man uns immer wieder, um ein Wiederholen zu verhindern. Das mag stimmen, aber wir Nachkommen der Opfer und Überlebenden zahlen dafür einen hohen Preis.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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