ST. PETERSBURG

S

Photo: all-free-photos, CC BY-NC-SA 2.5

WM-Tagebuch, 16. Juni

Der Newski-Prospekt, die Prachtstraße von St Petersburg, ist etwa vier Kilometer lang und beginnt an der Großen Newa im Westen der Stadt. Hier wohnte einst der Adel von St Petersburg und ließ sich im Winter in den teuren Schlitten herumführen, um gesehen zu werden und zu beobachten, wer mit wem sprechen oder eben nicht mehr sprechen würde. Heute genügt ein langer Spaziergang entlang dieser herrlichen Straße, um fast alle Sehenswürdigkeiten der Stadt zu sehen. Die Admiralität, die Isaakskathedrale und natürlich die Eremitage, Russlands wichtigstes Museum.

Geht man ein paar Straßen weiter, ändert sich das Bild der Stadt. Die Häuser werden niedriger, der Verputz bröckelt und die Farben bewegen sich zwischen graubraun und braungrau. Doch hinter diesen oft deprimierenden Fassaden lauert ein St Petersburg mit herrlichen Cafés, Restaurants, interessanten Geschäften und Galerien. Das Innenleben der Gebäude ist oft ein krasser Gegensatz zu den blassen Mauern.

Doch es geht ja diesmal nicht um Sightseeing, sondern um Fußball. Nach dem Eröffnungsspiel in Moskau, dass Russland 5:0 gewann, spielten einen Tag später Marokko gegen Iran in St. Petersburg. Mit einem tragischen Helden, der wahrscheinlich die nächsten Tage kaum schlafen wird können. Nach einem ziemlich langweiligen Spiel, bei dem die Fehlpässe die eigentlichen Höhepunkte waren, köpfelte der Marokkaner Aziz Bouhaddouz in der letzten Minute den Ball nach einem Korner ins linke Eck – nur leider ins falsche Tor. Bewundernswert seine Kameraden, die sofort zu ihm liefen und sich um ihn kümmerten. Er kauerte am Boden, völlig zerstört über seinen Fehler, und als wenige Minuten später der Schlusspfiff ertönte, verließ er das Spielfeld im Laufschritt.

Zwei Teams, die weitgehend chancenlos an diesem Wettbewerb teilnehmen, jedoch mit begeisterten Fans, die ihre Mannschaft lautstark unterstützen. Im Stadion das Verhältnis zwischen Iran- und Marokko-Fans etwa 1:2, und dazwischen ein paar wenige Russen und ein paar »staatenlose« Fans wie wir, dir von Spiel zu Spiel aussuchen konnten, für wen sie sich begeistern.

Die Sicherheitsmaßnahmen fast schon erdrückend. Vor dem Stadion endlos lange Schlangen und doppelte Überprüfungen der Tickets, des Ausweises und der Taschen. Es dauert etwa 45 Minuten vom Eingang des Stadions bis man seinen Platz erreicht. Hinter den beiden Toren wie üblich die Sektoren mit den Iranern und den Marokkanern, bestens getrennt, doch auf den anderen Plätzen mischen sich die beiden Gruppen auf allen Rängen und in allen Sitzreihen.

Eines fällt einem sofort auf – es sind praktisch keine Frauen im Publikum. Weder unter den Iranern noch bei den Marokkanern. Männergruppen stürmten das Stadion, bunt bemalt mit den Farben ihrer Länder. Vereinzelt ein paar Frauen unter den Marokkanern, doch unter den 60.000 Zusehern waren es nicht mehr als 100.

Ob es der heute endende Fastenmonat war oder das Problem dieser Männer mit Alkohol, nach der Pause nach ein paar Bechern Bier wurde der Ton zwischen den rivalisierenden Fans jedenfalls deutlich aggressiver. Wenige Reihen hinter uns begann dann plötzlich eine Prügelei zwischen iranischen und marokkanischen Zusehern, die allerdings von den Sicherheitsbeamten schnell beendet wurde. Nur mehr die leeren Sitze erinnerten an die Raufenden, die von bärenstarken Beamten sofort hinausbefördert wurden.

Das plötzliche Tor am Ende des Spiels überraschte die iranischen Fans, die mit einer sicheren Niederlage gerechnet hatten. Ein paar Männer in der Reihe vor uns sprangen auf und warfen die halb vollen Becher mit Bier hinter sich, wo allerdings außer uns fast nur Marokkaner saßen. Einer der Marokkaner schüttete seine Flasche Wasser über die Iraner. Was dann kam, konnten wir nicht verstehen, aber es klang nicht sehr freundlich, zumindest jedoch verzichteten sie auf eine Schlägerei und es blieb beim gegenseitigen Anbrüllen.

Beim Verlassen des Stadions entschuldigte sich einer der Männer in der Reihe vor uns und fragte mich, wo ich herkommen würde. Er sei aus mit seinen Freunden aus London angereist, sagte er. Ich fragte ihn, ob einige Iraner auch direkt aus dem Iran gekommen wären, dann lächelte er, fast verlegen, und meinte, nein, wahrscheinlich nicht, die meisten Iraner seien aus Europa oder den USA hier. Reisende direkt aus dem Iran hätten entweder das Geld nicht, oder würden keinen Pass bekommen oder die Russen würden ihnen kein Visum geben. Das Land sei in einer schwierigen Situation, er sei froh, in London leben zu können.

Nach dem Spiel saßen wir in einem modernen Restaurant, das auch in New York oder London sein könnte. Die Frau, die uns zum Tisch führte, sah aus wie frisch vom Titelblatt eines Modemagazins. Die meisten Gäste waren Russen, große, meist blonde Schönheiten mit übergewichtigen Männern an ihrer Seite, die mit ihren teuren Uhren der Umgebung zeigten, warum sie so schöne Freundinnen hatten. Eine fast schon absurde Mischung aus Schönheit und Hässlichkeit. Vielleicht eines der vielen typischen Bilder des modernen Russlands.

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER!

 Über diesen Beitrag auf Facebook diskutieren

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications