Sex und Brutalität als Flucht aus der Ideenlosigkeit?
Eine Reise nach London ohne Theaterbesuch ist eine halbe Sache. Wenn schon nicht Shakespeare in Originalsprache, dann wenigstens eines der Musicals, die seit Jahrzehnten mit wechselnder Belegschaft die Zuseher eher langweilen, oder für die ganz Mutigen eines der neuen Stücke, die von den kleinen Off-Bühnen sich langsam in die großen Häuser vorarbeiten.
Ein Theaterbesuch gehört nicht nur für Touristen zum Besuchsprogramm, sondern ist für die Briten sozusagen Alltag und weniger ein besonderer Abend, an dem man seinen schwarzen Anzug ausführt, sondern ein wichtiger Teil der kulturellen Identität auf der Insel. Viele Besucher der Theater in London kommen direkt aus dem Büroturm, der Bank oder Anwaltskanzlei, der Arztpraxis, oder dem Busbahnhof, wo der Fahrer seine letzte Tour beendet hat.
40 Prozent der Familien besuchen mindestens einmal pro Jahr ein Theater, und das Durchschnittsalter der Zuseher ist in den letzten zehn Jahren immer jünger geworden. Während durch TV und Internet den Kinos die Zuseher davonlaufen, geben sich die Briten gegenüber ihren Theatern loyal und treu und sind auch interessiert an neuen Produktionen. Etwa 20 Prozent der Zuseher sind jünger als 35 Jahre. Vor fünf Jahren waren es noch 15 Prozent. Von 2016 auf 2017 gingen 6 Prozent mehr Zuseher ins Theater und 77 Prozent der Sitze werden im Durchschnitt pro Vorstellung verkauft. Zählt man alle Klein- und Großbühnen in London, kommt man auf mehr als 200 Theater mit einem Durchschnittspreis von etwa 50 Euro pro Ticket. Die Einnahmen steigerten sich im letzten Jahr um 10 Prozent. Manche Stücke werden seit Jahrzehnten gespielt, und eine Schauspielergeneration löst die nächste ab. Rekordhalter ist »The Mousetrap« mit mehr als 27.000 Aufführungen seit 1952, »Les Miserables« folgt mit 13.500 und »The Phantom of the Opera« wurde 13.300 mal gespielt.
Theaterstadt Nummer Eins
Theaterbesuche in London sind ein eigenes Ritual. Die in einer Reihe hintereinander geduldig wartenden Zuseher auf der Straße vor den Theatern, obwohl sie bereits Karten haben, weil man sie erst eine halbe Stunde vor Beginn eintreten lässt. Die Abneigung, den Mantel abzugeben, was dazu führt, dass viele Zuseher diesen eingerollt unter den Sitz schieben, über den später jeder stolpert, der seinen Platz in der Mitte der Reihe aufsucht, und andere deswegen aufstehen müssen. Der obligate Drink vor Beginn an der Bar und natürlich Ice Cream während der Pause im kleinen Papierbecher, wo der Löffel im Deckel verborgen ist, und man ihn kaum herausbringt. An den Kiosken rund um Piccadilly Circus werden Restkarten angeboten, und wenn man Glück hat, kann man um wenige Pfund auf den besten Sitzen einen Hollywood Star bewundern, der praktisch ohne Bezahlung in einer der Produktionen auftritt, wahrscheinlich weil es ihm einfach Spaß macht.
Eigentlich sollten alle zufrieden sein, die Autoren, die Schauspieler und die Betreiber. Die Theater sind gut besucht, und London hat New York als Nummer eins unter den Theaterstädten überholt, da die bekanntesten Autoren, Regisseure und Schauspieler London gegenüber New York als »Test-Markt« vorziehen, weil sie das Niveau des Publikums hier besonders schätzen.
Brutalität auf der Bühne
Wenn da nicht plötzliche Kate Mosse, Theaterdirektorin und eine der prominentesten Autorinnen in Großbritannien, in diesen Tagen eine Diskussion über die ihrer Meinung nach völlig sinnlosen und übertriebenen Brutalitäten auf den Bühnen losgetreten hätte. Blut würde in Strömen fließen, Menschen würden gequält und misshandelt werden, und Vergewaltigungen seien derart authentisch gezeigt worden, dass bei manchen Inszenierungen zahlreiche Zuseher die Theater verlassen hätten. Das könne nicht Sinn des Theaters sein, meinte Kate Mosse und forderte die Theaterverantwortlichen und Regisseure auf, diese Form des »Schock-Theaters« zu unterlassen.
Kate Mosse – weltberühmt seit ihrem Bestseller »Labyrinth«, der in 37 Sprachen übersetzt wurde – die jahrelang das Chichester Theatre Festival leitete und stellvertretende Leiterin der Dachorganisation der britischen Theater ist, kritisierte die Regisseure, Brutalität zu einem reinen Show-Effekt verkommen zu lassen, selbst wenn es für die Handlung keine Bedeutung habe. Die Kritiken in den Medien würden auf den Trick hereinfallen und die Besprechungen mancher Produktionen hätten sich auf einzelne »Schocker« konzentriert, die den Text weder unterstützen noch erklären, das Stück auch nicht interessanter machen, und auch keine neuen Zuseher ins Theater bringen würden.
Rossini mit Vergewaltigung
Selbst das noble Royal Opera House in London wurde vor ein paar Jahren kritisiert, weil in Rossinis Oper »Wilhelm Tell« eine Schauspielerin nackt ausgezogen wurde und die Vergewaltigung mehrere Zuseher derart schockierte, dass mehr als ein Dutzend die Oper verließ. Die Vergewaltigungsszene kommt weder in der Originalfassung der Handlung vor, noch in irgendeinem gesungenen Text. Es war die reine Eigen-Interpretation des Regisseurs, völlig losgelöst von der Handlung und ohne Bedeutung. Das Theater The Globe zeigte Shakespeare’s »Titus Andronicus« mit Vergewaltigungsszenen, Kannibalismus und etlichen Toten, obwohl davon nichts im Theaterstück steht.
Kate Mosse war nicht die Einzige, die sich zu Wort meldete. Sie löste eine Diskussion aus, welche Formen der Aggression durch reale Personen auf Bühnen im Vergleich zum Film zumutbar wären, und ob nicht durch die Realität einer Theaterproduktion andere Regeln beachtet werden müssten.
Natürlich kam es sofort zu Reaktionen auf diese Kritik, und manche warnten, dass man nicht durch Zensur, wie sie noch vor ein paar Jahrzehnten üblich war, die Freiheit der Kunst gefährden sollte. Doch Kate Moss, in deren Büchern und Theaterstücken Brutalität, Folter, Sexualität und Grausamkeit vorkommen, konterte mit dem Vorwurf, dass mangelnde Qualität und Kreativität im Text und in der Regie nicht durch sinnlose Brutalität ersetzt werden sollte. Wenn Mitspielern Augen ausgestochen und Babys mit Steinen erschlagen werden, werde der Hintergrund einer Handlung in den Vordergrund gedrängt und die Sprache ordne sich der Affektivität unter. In Sarah Kane’s »Blasted« zum Beispiel sticht ein Soldat seinem Opfer die Augen aus und verspeist sie genüsslich. Dies wurde derart authentisch dargestellt, dass einige Zuseher bei der Premiere in Ohnmacht fielen und andere einfach aus dem Theater rannten.
Normalität und Theater
Pornographie und Brutalität seien zwar Alltag in den täglichen Nachrichten, aber das bedeute noch lange nicht, dass Theater diese »Normalität« nachmachen und kopieren müssten, meinte Kate Mosse in ihrem Vortrag vor ein paar Tagen beim Theaterfestival in Edinburgh. Die Reaktionen ihrer Kollegen waren zum Teil erstaunlich zustimmend, da die meisten meinten, sie stünden oft unter Druck der Theaterdirektoren, etwas »Sensationelles« zu bieten, über das dann in den Medien diskutiert werden würde – und hätten persönlich eigentlich genug davon. Für die meisten Regisseure sei immer noch der Text und die schauspielerische Leistung entscheidend, und nicht die Menge an Blut, die über die Bühnen fließe.
Für den Herbst kündigen sich daher Veränderungen in den Aufführungen der Theater in London an. Einige Regisseure sagten in Interviews, auf erfundenen Aggressionen und Brutalitäten zu verzichten und sich strenger an den Texten zu orientieren. Man könne im Theater ohnehin nicht mit den Effekten des Filmes konkurrieren und sollte auch den Versuch aufgeben.
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf einen der größten Erfolge der letzten Jahre in der Londoner Theater-Szene verwiesen, der Komödie »The Play That Goes Wrong«, wo in Slapstick-Manier einfach durchgeblödelt wird und die Zuseher sich kaum auf den Sesseln halten können vor lauter Lachen. Es sei ein Symbol wie gutgemachtes Theater mit einfachen Mitteln Hunderttausende begeistern könne, meinte ein Theater-Kritiker in London, und ging so weit in seiner Verurteilung der Brutalität, dass er die Betonung der Aggression als Flucht aus der Ideenlosigkeit und dem Mangel an guten Stücken kritisierte. Humor würde fast völlig fehlen auf den Bühnen und sei tausend mal schwieriger zu schreiben und zu inszenieren als eine Vergewaltigungsszene.
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