BLEIBEN ODER GEHEN

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Der Brexit zerreißt die Britische Gesellschaft

In unserem Tennis-Klub in Guildford, etwa 35 Minuten südlich von London, treffen sich jeden Mittwochvormittag die älteren Herren unter den Mitgliedern, um einander in Form von Doppel-Spielen zu beweisen, dass man – obwohl oft verzweifelt über die langsamer werdenden Bewegungen und die reduzierte Fähigkeit der Augen, die Flugrichtung des Balles zu erkennen – den Spaß am Tennis noch nicht verloren hat. Nach zwei Stunden Hetzerei sammeln sich alle im Klubgebäude. Es wird Kaffee und Tee vorbereitet, und einer der Spieler bringt jedes Mal ein paar Packungen Kekse, die aufgerissen auf dem Tisch liegen, und je nach Stand des Blutzuckerspiegels greifen die einen öfters und die anderen weniger öfters zu.

Die nächsten zwei Stunden wird einfach gequatscht, über alles und nichts. Manchmal geht es um Freunde, die wegen der unterschiedlichsten Leiden nicht mehr kommen würden. Man gibt einander Ratschläge, welcher Doktor am besten ausgefallene Zähne ersetzen könne, und mit welchem Elektrofahrrad der Hügel zurück nach Hause bewältigt werden könnte, ohne absteigen zu müssen um das Rad zu schieben.

Doch in den letzten Wochen zerreißt dieses Netzwerk emotionaler Verbindungen zwischen den Spielern immer wieder durch ein einziges Thema: Brexit. Sobald jemand dieses Problem erwähnt, kommt es zu immer lauter werdenden Wiederholungen der Argumente der ‚Leaver’ und ‚Remainer’, wie sie hier bezeichnet werden, ohne dass irgendjemand auch nur versucht, einem anderen zuzuhören oder auf dessen Worte einzugehen.

Sigmund Freud nannte es einst eine ‚zwanghafte Verhaltensstörung’, als er ein Kind dabei beobachtete, wie es immer wieder seinen Teddybären aus dem Kinderwagen wirft, dann schreit, weil es ihn zurückhaben will, und ihn dann wieder aus dem Wagen wirft. Ähnlich verhalten sich die Kontrahenten in der Brexit-Frage.

Nach der überraschenden Abstimmung im Juni 2016 gingen die meisten Briten davon aus, dass es zwar schwierig werden würde, sich mit der EU zu einigen, es aber im Interesse aller Beteiligten wäre, sehr schnell zu einer praktikablen Lösung zu kommen. Keiner der beiden, EU und Großbritannien, würde ohne den anderen auskommen und ob für oder dagegen, der Pragmatismus würde siegen.

Damals gab es verschiedene Untersuchungen über das unterschiedliche Verhalten von Altersgruppen, Stadt und Land, Einkommensklassen, der Regionen und Frauen/Männern. Das klang alles sehr logisch und weitgehend emotionslos. Die Analysen lasen sich wie pragmatische Untersuchungen und scheinen heute doch ewig lange her zu sein.

Stammeskämpfe

Die heutige Aufteilung der Gesellschaft hat sich von jeder Logik verabschiedet. Großbritannien vermittelt den Eindruck eines Landes, das in Stammeskämpfe verwickelt ist, und jede der beiden Volksgruppen, ‚Remainer’ und ‚Leaver’, wird von der anderen mit einem reduzierten Vokabular von Klischees identifiziert und charakterisiert.

‚Leavers’ sind Rassisten, Ausländerfeinde, Rechtsextreme und Nationalisten, außerdem ignorant, nostalgisch, ungebildet, weltfremd, egoistisch und haben von Ökonomie keine Ahnung. Sie sind die Frustrierten, die Verlierer der Gesellschaft, haben Tattoos an den Armen, können kein ordentliches Englisch, essen zu viel Fleisch und verbringen Samstag und Sonntag vor dem Fernseher, um Fußball zu schauen. Sie sind sich sicher, dass jeder afrikanische Einwanderer ihnen den Arbeitsplatz wegnehmen würde, und dass es keinen Terrorismus gäbe, wenn man die Grenzen früher geschlossen hätte.

‚Remainers’ sind versnobte Städter, protzig und überheblich, fahren Range Rover, obwohl sie nie die Stadt verlassen, und haben den Bezug zur normalen Bevölkerung verloren, glauben, etwas Besseres zu sein, weil sie teuren Kaffee trinken und die Weinkarte in einem Restaurant kritisieren, weil ihr Lieblingswein fehlt. Transgender Toiletten sind ihnen wichtiger als die Arbeitslosenrate und eine Fahrradspur wichtiger als der Benzinpreis. Sie verachten das einfache Volk, spielen die Liberalen, indem sie Kunst aus Afrika kaufen, während sie in England für die Kürzung der Kulturbudgets eintreten. Sie sind weder loyal gegenüber der Königin, der Britischen Fahne oder der britischen Armee.

Die ursprüngliche Aufteilung der ‚Für und Gegen’ Anhänger hat sich längst aufgelöst. Sie geht nun quer durch alle Bevölkerungsgruppen, durch Stadt und Land, arm und reich, Frauen und Männer und auch alle politischen Parteien. Innerhalb der Konservativen streiten die ‚Leaver’ mit den ‚Remainern’ genauso wie innerhalb der Labour Party, und sie konfrontieren einander mit den gleichen und selben Vorwürfen wie die Männer im Tennisklub am Mittwochvormittag. Unter den Konservativen hat sich eine Pro-EU Gruppe gebildet, so wie in der Labour Party eine pro Brexit. Die einst einflussreichen Liberalen, vor ein paar Jahren noch in einer Koalitionsregierung, wurden durch diesen Konflikt völlig zerrieben.

Und der Konflikt der beiden Stämme wird von Tag zu Tag emotionaler. Freunde diskutieren nicht mehr über dieses Thema, Kinder nicht mehr mit ihren Eltern, und in der einst so gemütlichen Tee und Keks Runde im Tennisklub in Guildford hat letzte Woche der Präsident des Klubs ersucht, wenigstens im Klub dieses Thema zu vermeiden, da es unnötige Konflikte provozieren würde, und man sich hier zur Entspannung und Erholung treffen würde.

Politische Heimat

Zur perfekten Eskalation trägt auch das Verhalten der beiden großen Parteien bei, die es ihren Anhängern schwermachen, wenigstens der politischen Linie einer Partei zu folgen. Brexit Befürworter sehen die chaotischen Verhandlungen als Bestätigung ihrer Vorurteile gegenüber den EU-Ländern Deutschland und Frankreich. Sie werfen den konservativen Ministern Feigheit und geringes Verhandlungsgeschick vor, und haben jedes Vertrauen in die Regierungsmannschaft unter May verloren. Selbst konservative Medien verlangen den Rücktritt der Regierung, ohne jedoch Neuwahlen zu fordern, denn sie fürchten ein noch größeres Chaos unter dem Labour Führer Corbyn.

Gegner von Brexit ziehen sich von der Labour Party mehr und mehr zurück, da die derzeitige Parteiführung immer wieder als EU-Gegner auftritt, die nur besser verhandeln würde. Die Londoner Finanzwelt, einst eiserne Brexit-Gegner und Labour-Unterstützer, erschrak letzte Woche über die Warnungen mehrerer Finanzinstitute, dass eine Regierung unter Corbyn eine weitaus größere Gefahr für die britische Wirtschaft bedeute als ein Brexit-Vertrag.

‚Remainers’ und ‚Leavers’ haben ihre politische Heimat verloren, durch keine Partei fühlt sich die eine oder andere Gruppe vertreten. Die meisten sehnen sich nach einer neuen, kompromissfähigen Regierung, die gemeinsam mit der Opposition eine langfristig funktionierende Lösung ausarbeiten würde, die der nächsten Generation eine gesicherte Entwicklung garantiert.

Entlarvung

Diese Woche am Mittwoch ignorierte einer der Tennisspieler die Anordnung des Präsidenten und fragte mich plötzlich, was ich als Österreicher zum Thema Brexit sagen würde. Er überraschte mich mit der Frage und ich zögerte, mich in diesen Konflikt einzumischen. Ich glaube, die überwältigende Mehrheit der Österreicher will bei der EU bleiben, sagte ich und hoffte, dass damit mein Beitrag beendet sei.

Doch der Mitspieler ließ nicht locker und meinte, er habe meinen Namen gegoogelt, und über meine Vergangenheit gelesen. Als ehemaliger EU-Abgeordneter müsse ich doch am besten wissen, ob Bleiben oder Gehen die bessere Lösung sei.

Ich dachte mir, zähle einfach langsam bis zehn, vielleicht rettet dich einer aus dem Dilemma. Das letzte, was ich hier wollte, war, als neues Mitglied Ratschläge zu einem Thema zu geben, zu dem jeder eine festgefahrene Meinung hatte. Das konnte nur schiefgehen.

Nichts gegen dich persönlich, Peter, sagte ein anderer plötzlich. Und fuhr fort, wie sollte Peter eine Ahnung haben, wenn er in den letzten Jahren hier nicht gelebt habe. Und die in Brüssel würden doch wie im Elfenbeinturm leben.

Ich war eben erst bei fünf mit dem Zählen angelangt, als er mich mit dieser Bemerkung rettete, denn was dann kam, war die Wiederholung der Wiederholung der letzten Mittwoche. Sie prallten aufeinander wie Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und meine EU-Zeit war vergessen und kein Thema mehr. Und niemand erwartete von mir einen Ratschlag.

Mit Brexit hat sich Großbritannien in eine Situation der Unsicherheit und Angst manövriert. Andere ziehen sich in eine Biedermeier-Stimmung zurück und versuchen das Thema zu ignorieren.

Weder Politiker noch Wirtschaftsfachleute wissen heute, was auf sie zukommt und haben daher auch keine Ahnung, was für Lösungen ausgearbeitet werden sollen. Bei allem Respekt vor demokratischen Entscheidungen ließ man die Bevölkerung über ein Thema abstimmen ohne die Fachleute zu haben, eine Brexit-Entscheidung auch umzusetzen.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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