DIE IDEALE SONDERSCHULE

D

Ideallösungen gibt es. Verwirklichen wir sie!

Die Debatte über die ideale Schule für Menschen mit Benachteiligung – oft Kinder mit Lernschwäche, aber auch solche mit mehrfachen psychischen und physischen Behinderungen – beruht auf einer Fehlinterpretation der UN-Behindertenrechtskonvention, die keinesfalls zu einer „inklusiven Schule für alle Kinder verpflichtet“ und Sonderschulen verbietet.

Die innerhalb der UNO für Bildung zuständige UNESCO wird stark von Entwicklungs- und Schwellenländern dominiert, da gerade diese oft massiven Bedarf an der Optimierung ihrer Schulsysteme und an der Verwirklichung einer Beschulung aller Kinder haben. Beides ist dort oft nicht gegeben.

In manchen dieser Länder sind Kinder mit Behinderungen überhaupt nicht vom Schulsystem erfasst. So gingen wiederholt Berichte über Indien durch die Medien, wo Kinder mit Behinderung teils ohne jegliche Schulbildung und ohne nennenswerte Betreuung in halbverfallenen Lagerhäusern dahinvegetieren – sie sind vom öffentlichen Schulwesen ausgeschlossen. Und gerade auf diesen Ausschluss aus dem Öffentlichen Schulsystem bezieht sich die UN-Behindertenrechtskonvention. Daraus hierzulande die Verpflichtung zu „inklusiven Schulen“ und Abschaffung der Sonderschulen ableiten zu wollen, ist unzulässig. Österreich mit seinen in das Öffentliche Schulsystem integrierten Sonderschulen entspricht vollinhaltlich der UN-Behindertenrechtskonvention.

Österreich ist daher in seinen Entscheidungen, welche Wege es hin zu welchen optimalen öffentlichen Schulen für Alle beschreitet, völlig frei.

Die LehrerInnen

Ein Tabuthema ist, dass in hinsichtlich der Schülerpopulation vergleichbaren Schulen manche Klassen immer wieder, andere nie Sonderschulzuweisungen wegen Problemen mit dem Deutschlernen vorschlagen. Das zeigt, dass oft nicht die Kinder das Problem sind, die zu SonderschülerInnen gemacht werden sollen, sondern die Qualität des Deutschunterrichtes.

Dies erfährt seine Bestätigung in den teils öffentlich ausgetragenen Debatten unter LehrerInnen, deren Einschätzungen oft diametral entgegengesetzt sind, wenn es um die Frage „Deutschunterricht in Klassen mit 100% nicht deutschmuttersprachigen Kindern“ geht! „Das kann ja gar nicht funktionieren“ lautet die eine, „Wo ist das Problem“ die andere Position. Letztere ist gottlob häufiger als man vermuten würde, die öffentlich weit vernehmbarere ist leider die erstere. So wundert es nicht, dass der Eindruck entsteht, der Niedergang des heimischen Schulsystems – massive Schwächen im Lesen, Schreiben, Rechnen und Üben – wäre ein von „Ausländern verursachtes Problem“. Zutreffend ist das Gegenteil. Bereits in den 1980ern haben Studien auf steigende Probleme in diesen Grundkompetenzen hingewiesen – massenhafte Fluchtbewegungen wie 2015/2016 hatten damals keine stattgefunden.

Gelingender und Problemunterricht? Unterrichtsbesuche zeigen ein klares Bild: Hilflosigkeit und Lärm bei der einen Lehrperson, engagiertes, fröhliches und erfolgreiches Arbeiten bei der anderen. Verfolgt man den Unterricht in den Klassen „live“, dann entdeckt man rasch, warum es in der einen Klasse bestens funktioniert und warum in der anderen gar nichts geht – obwohl in beiden Klassen nicht ein einziges Kind mit Deutsch als Muttersprache sitzt.

Was tun? Statt jene Kinder, die wegen des Scheiterns ihrer LehrerInnen in die Sonderschule überstellt werden, müssen diese Lehrer in den Genuss einer speziellen, einer Sonder-Fortbildung kommen, die ihnen das Gelingen ihres Unterrichtes sichert – dies ist eine Notwendigkeit und keine „Strafe“, denn kaum eine Lehrperson hat in der Lehrerbildung die nötigen „Werkzeuge“ zur Bewältigung der heutigen Unterrichtsanforderungen mitbekommen. Doch am einfachsten und am wirkungsvollsten ist es, wenn mit sich selber unzufriedene Lehrerpersonen den gelingenden Unterricht ihrer KollegInnen miterleben und davon lernen. Es gibt Schulen, die dies praktizieren – so gut wie immer mit großem Gewinn für alle Beteiligten!

Die Eltern und Schüler

Die Eltern potentieller SonderschülerInnen gehören allen Schichten an. Bei Kindern mit (scheinbar) sonderschulrelevanter Lernschwäche, die aus bildungsuninteressierten Familien kommen, kann die Schule wenig auf einen qualifizierten Dialog mit den Eltern setzen. Viele Kinder mit Behinderungen kommen mittlerweile aus Akademikerhaushalten. Diese Eltern sind meist extrem orientiert, was die Bedürfnisse ihrer Kinder betrifft. Die einzige Gruppe, die mit einiger Sicherheit mehrheitlich den Besuch ihrer Kinder in Inklusionsschulen wünscht, sind die Eltern von Kindern mit Trisomie 21 (Down Syndrom). Nahezu alle anderen Eltern fordern besondere Schulen, die weit gezielter auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen können als gewöhnliche Regelschulen.

Was ist eine „sonderschulrelevante“ Behinderung? Landläufig denkt man hier zu allererst an Kinder mit Trisomie 21. Doch es gibt rund 1.500 Arten von Beeinträchtigungen, die oft in Form von Mehrfachbehinderungen auftreten, und die sowohl die betroffenen Kinder als auch die betreuenden Menschen und die Systeme massiv herausfordern. Es gibt Kinder im Wachkoma, solche die mehrfach pro Vormittag eine Darmmassage benötigen, und solche, die jede halbe Stunde einen unbeherrschbaren Schreikrampf erleiden. Und die Zahl der betroffenen Kinder wird nicht niedriger, sie steigt.

Doch auch daran darf und muss man denken: auch Kinder mit durchschnittlicher und hoher Begabung haben ein Recht auf optimale Förderung. Dies setzt einer kompromisslosen durchgehenden Inklusion bestimmte Grenzen – Grenzen, die so gezogen werden müssen, dass sie zum Wohl aller Kinder sind. Auch diese Herausforderung ist bewältigbar, wenn nicht faktenferne Ideologien welcher Art auch immer Handeln zum Nutzen der Kinder verhindern.

Und wie denken betroffene Kinder darüber? Orientierte Eltern berichten, dass ihre Kinder mit Benachteiligung in gewöhnlichen Regelklassen oft darunter leiden, leistungsmäßig die „Letzten“ zu sein – auch wenn die Lehrpersonen ihnen viel Zuwendung geben. Ich bin ein partiell schulversagendes Kind gewesen (nicht nur im Rechnen) – neben drei teils älteren bzw. jüngeren „Vorzugs-Geschwistern“. Ohne deren massive Hilfe und die meiner Eltern hätte ich niemals die Matura geschafft. „Der Bua gehört in die Sonderschule“ – das habe ich nicht nur einmal gehört. Und ohne helfende Eltern und Geschwister wäre ich vermutlich dort gelandet. Ein wichtiger Gewinn aus dieser Zeit: Ich kenne das Gefühl, in schulischen Belangen „der Letzte“ zu sein.

Die ideale Schule

Was ist zu tun? Die Fehlinterpretation der UNESCO-Empfehlung (angebliches Verbot von Sonderschulen) führt in eine falsche Richtung, die einen Teil der betroffenen Kinder schädigen würde. Nötig sind Sonderschulen, die sich gezielt der Probleme der Kinder annehmen, die aber auch die Stärken dieser Kinder erkennen. Besonders Kinder, die in Teilbereichen zu kämpfen haben, können ungeahnte „Kompensationsenergien“ entwickeln, die sie zu weit überdurchschnittlichen Leistungen in welchen Bereichen auch immer befähigen können – sozial, handwerklich, künstlerisch. Wenn einer Sonderschule dieser „Multi-Spagat“ gelingt, kann auch sie eine ideale Schule sein – weil sie im besten Sinne ganz, ganz nahe an den Bedürfnissen der SchülerInnen dran wäre. Und dies ist wohl das höchste Ziel für jede Schule!

„In den besten Schulsystemen dieser Welt haben alle SchülerInnen Kontakt mit allen!“, lautet ein seit vielen Jahren unveränderter Nebenbefund der PISA-Tests. Kontakt aller mit allen – und wenn es „nur“ in der Pause ist! Heute weiß man, dass Kinder, wenn sie unter sich sind, am besten voneinander lernen – teils mit mehr Erfolg als in der Schulklasse! Beeindruckende Ergebnisse belegen dies, auch aus dem Bereich des Spracherwerbs.

Das Prinzip „alle lernen von allen – zumindest in der Pause“ benötigt dreierlei: Ausgiebige Pausen, geeignete Schulgebäude und extrem kooperative, dünkelfreie und engagierte SchulleiterInnen. Eines meiner drei TOP-Erlebnisse in meinem Berufsleben war der Besuch einer hervorragend geführten, gewöhnlichen öffentlichen High-School im Mittelwesten der USA. Die bleibende Erinnerung: Von „selbstorganisierten“ Eltern geführte Rollstühle mit benachteiligten Kindern, das „Musikprogramm“ der Schule, das kurz zuvor zum besten des Bundesstaats gekürt worden war – und im Biologiesaal ein Elektronenmikroskop, mit dem künftige NobelpreisträgerInnen forschen.

Ein Traum? Für Österreich derzeit JA. Verwirklichen wir ihn! In einem der wohlhabendsten Staaten der Welt sollte uns das gelingen!

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER!

Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole