Das Ende der großen Simulation
Gleich nach dem Anschlag in Manchester, bei dem erneut so viele Menschen getötet oder verletzt wurden, trommelten wieder jene Wörter und Sentenzen auf uns ein, die man kaum noch zu hören vermag, ohne sich innerlich abzuwenden – nicht vom furchtbaren Geschehen und traurigen Schicksal der Opfer, sondern vom formelhaften Diskurs, der politisch in Gang gesetzt wird: mittels gestanzter Äußerungen wie feige, unbegreiflich, widerwärtig, Dialog, weiterleben wie bisher, Besonnenheit…
Was uns hier heimsucht, ist der Fluch einer jahre-, wenn nicht jahrzehntelangen Simulation von Politik. Zunehmend ersetzten plakative Begriffe und schillernde Narrative die zugrunde liegenden Probleme und Lösungen, bis dahin, dass politische Prozesse regelrecht entkernt und politische Zusammenhänge unkenntlich wurden. Politiker sahen sich immer mehr in Sprechakte verwickelt, wenn sie politisch agieren wollten. Unangenehmes wurde sprachlich übertüncht, Unvermeidbares vergoldet – und Machbares, schwer zu verwirklichen, solange verniedlicht oder überzeichnet, beschönigt oder kaschiert, bis es zuletzt im Irrealen versank.
Bei den politischen Statements zu Anschlägen holt uns die Realität wieder ein. Betroffen stellen wir fest, wie seelenlos, wie substanzlos diese gestanzten Veräußerungen sind, wie groß der Abstand geworden ist zwischen Fakten und Sätzen, wie ratlos das alles wirkt. Die Verschiebung der Wirklichkeit in sprachliche Parallelwelten, bei der man darauf setzte, dass uns die harten Folgen solch weichen Tuns im allgemeinen Wohlstand erspart bleiben, kommt an ihr Ende. Wir erkennen, dass Politik näher am Predigen siedelt denn am Handeln, näher an der Geste wohnt denn am Gestalten – und dass Politik Politisches leider nur noch simuliert.
Aber machen wir uns nichts vor: Politik fand und findet immer innerhalb der herrschenden Verhältnisse statt! Wenn wir uns nur ein bisschen umschauen, stoßen wir denn auch auf jede Menge Entsprechungen in Bildung, Kultur, Medizin, Service, Ernährung und Verkehr. Freie Fahrt für freie Bürger? Ist von geflickten Landstraßen, baufälligen Brücken, überfüllten Autobahnen und einem Wust an Vorschriften längst widerlegt. Kunst des Theatermachens? Ist im hohlen Gestus von Regie-Gecken, im Stöhnen und Brüllen von Schauspielern und im Phrasendreschen von Theaterdichtern längst erstorben.
Und sonst? Ärzte gleichen immer mehr Gesundheitsingenieuren, Automechaniker werden zu Diagnostikern, Restaurants kochen ganz oder halb vorgefertigte Speisen, ferne Urlaubsreisen sind definierte Verbringungen an Orte, deren Exotik regelrecht designt ist, Live-Sendungen werden zeitversetzt ausgestrahlt, Diskussionen reduzieren sich zu verbalem Schlagabtausch, Begründungen weichen deduktivem Dozieren, Gottesdienste gründen sich auf politisch-soziale Botschaften, Umweltschutz wird zu Vogelmord, Israelkritik verhehlt Antisemitismus, Erotik und Beziehungen ersetzen Liebe und Verliebtsein, mit Vintage befriedigen wir unsere Sehnsucht nach heiler Vergangenheit.
Simulation ist der große Treibriemen unserer Zeit. Je weniger wir wussten, wer wir sind und was unser Leben eigentlich ausmacht, desto besinnungsloser simulierten wir Bedeutung und Inhalt, Form und Gestalt, Beruf und Privates. Und da regen wir uns über Trump auf? Der Mann ist in all seiner Ungeschliffenheit, seinem Schwanken und konzeptuell kargen Dealen womöglich authentischer als jene vielen, die ihre politischen Statements blankpoliert herbeten und sich der Realität in einem Ausmaß verweigern, das uns letztlich teurer kommen könnte als Trumps eher triviale Trial-and-Error-Politik. Die ihn gewählt haben, unterscheiden sich im Übrigen von denen, die sich über ihn aufregen, bloß hinsichtlich der Art ihrer eingebildeten Weltsicht.
Doch wir kommen ans Ende der großen Simulation. An allen Ecken der Welt bricht härteste Realität auf und erreicht uns auf Schlauchbooten, bei Attentaten oder durch Militär, das wir zunehmend entsenden müssen. Wir glauben schon nicht mehr an die allein seligmachende Kraft des Dialogs, wir beginnen das angeblich Unbegreifbare zu begreifen, wir messen Religionen an ihren Taten, wir richten unser Dasein entlang von Bedrohungen neu aus. Wir hören die tönernen Sätze noch, aber sie beruhigen uns nicht mehr – ohne dass wir unser freiheitliches, tolerantes Leben allerdings aufgeben wollten, im Gegenteil!
Da liegt es in der Natur der Sache, dass sich wohl bald auch die Politik auf die neuen Verhältnisse einstellen muss. Sie kann eigentlich nicht anders, egal wie schwer es ihr fällt: Wählerwünsche sind stärker als simulierte Überzeugungen! Es wäre schön, wenn im Nebeneffekt auch wieder ausdrucksvolles, wegweisendes Theater zu sehen wäre.