WER ANTISEMIT IST, BESTIMME ICH

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Noch eine Studie. Und nun?

Nun wurde wieder einmal eine Studie präsentiert, wer welches Vorurteil gegenüber Juden hat, und zu welchem Prozentsatz welche Bevölkerungsgruppe Juden nicht leiden kann oder sie verurteil oder sonst was gegen sie hat.

Wie bei jeder Studie geht es um Zahlen, wie viele von Hundert, die dann entsprechend beruhigen oder beunruhigen sollten, je nach Häufigkeit des Judenhasses in einer bestimmten Altersgruppe oder der Identifikation der Befragten nach Herkunft oder Religion. 

Als Betroffener – das heißt als Jude – muss man versuchen, sein Leben nach diesen Prozentsätzen einzuteilen, zu organisieren und zu planen. Je höher der Prozentsatz, desto mehr muss man sich fürchten, je niedriger er ist, desto beruhigter kann man sein Leben leben. Wenn zum Beispiel zehn Prozent der Österreicher aggressiv antisemitisch denken, so muss man bei jedem/jeder Zehnten damit rechnen, dass er/sie einen nicht leiden könne, bestimmte negative Vorstellungen habe, und so ein direkter Kontakt mit dieser Person eventuell unangenehm sein könnte. 

Genauer kann man das nicht vorausplanen, denn das vorhandene, abgefragte Vorurteil wird nicht nach Konsequenzen bewertet. Es fehlt sozusagen die zweite Frage in der Studie, was denn diese Menschen auf Grund des Vorurteils vorhätten, wenn sie einen Juden treffen würden. Ein entscheidender Mangel dieser Studien, die zwar die Bereitschaft quantifizieren, aber nicht qualifizieren, wozu die Bereiten bereit wären. 

Wie soll man sich als Jude/Jüdin auf diese zehn Prozent vorbereiten, auf sie einstellen? Wenn ich in die Straßenbahn einsteige, mich auf einen Platz setze, um in Ruhe die Fahrgäste zu studieren, und sie nach der Reihe abzähle, dann den oder die Zehnte identifiziere … ja … was soll ich dann machen? Lächeln? Freundlich sein? Bedrohlich wirken, um meine Stärke zu zeigen, dass ich mir nichts gefallen lassen werde? Oder vorsichtig, eher unterwürfig, um nicht zu provozieren, mich als wehrlos und harmlos zeigen? Einfach wegschauen?

Noch schwieriger wird es mit dem zweiten Teil der neuen Studie. Die zeigt den Unterschied zwischen der alpenländischen Ur-Bevölkerung und den neuen Zuwanderern aus arabischen Ländern und der Türkei. Unter diesen steigt der Prozentsatz der Vor-Verurteilenden auf etwa 50 Prozent. Das bedeutet für mich als Jude, dass jeder Zweite, der als Araber oder Türke sich zu erkennen gibt oder (für mich) so aussieht, mich nicht leiden kann und irgend etwas gegen mich hat. Das macht die Sache ziemlich kompliziert, denn es konfrontiert mich mit der Realität der Unmöglichkeit des sich verstecken oder Schutz suchen. Wie soll ich mich vor jedem oder jeder Zweiten in Acht nehmen? Wenn tatsächlich fünfzig Prozent dieser Bevölkerungsgruppe derart negativ über Juden denken, wie soll man sich darauf einstellen, darauf vorbereiten? 

Einen hundertprozentigen Schutz kann es bei dieser Häufigkeit nicht geben, aber man könnte mit entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen so manchen Unannehmlichkeiten ausweichen. Eine weitere statistische Information betrifft nämlich die Einstellung zu Israel, und hier liegen die kritischen oder negativen Einstellungen prozentuell noch höher als bei den Vorurteilen gegenüber Juden. Dies lässt sich jedoch kontrollieren, zum Beispiel mit einem Palästinenser-Tuch. Niemand wird als Israel-Freund verdächtigt werden, der mit dem schwarz/weißen Tuch um den Hals herumläuft. Falls es die eigene Religiosität vorschreibt, eine Kippa zu tragen, dann besser unter einer Baseball-Kappe. dann ist das Haupt entsprechend der Regeln bedeckt, aber man ist nicht erkennbar als Jude. Geht der Respekt vor religiösen Vorschriften so weit, dass Pajes, Zizit und ein Kaftan verlangt werden, ist man nicht zu retten. Dann muss man sich dem Schicksal hingeben und vorbereitet sein, was immer einem entgegen kommt.

Bei verbalen Konfrontationen ist eine kritische Einstellung gegenüber Israel immer hilfreich. Man muss nicht gleich übertreiben mit »Kindermördern« und anderen Slogans von Plakaten, die man in Erinnerung von diversen Demonstrationen hat. Zumindest die Einstellung der SPÖ, eines Abgeordneten Pilz und anderen Linken könnte man wiederholen und Reaktionen Israels auf Angriffe der Hamas als »unverhältnismäßig« und »übertrieben« bezeichnen. Das wären gute Bemerkungen, um von Beginn an zu signalisieren, man sei nicht einer jener, die »alles und nichts« der Israelis entschuldigen.

Am Schwierigsten ist es sich als Jude zu positionieren bei der Vermengung von Zionismus und Antisemitismus. Hier wird von den Kritikern geschickt balanciert mit diesen beiden Begriffen. Antizionismus sei kein Antisemitismus, behauptet zum Beispiel die iranische Führung und verweist auf einen jüdischen Abgeordneten im eigenen Parlament in Teheran. Und immer wieder plustern sich Politiker, Künstler und wer-weiß-sonst-noch-aller auf, dass doch Kritik an Israel erlaubt sein müsse, ohne deshalb als Antisemit denunziert zu werden. Als hätte es ihnen jemand verboten, wehren sie sich gegen Kritiker, die nicht existieren.

Dabei gibt keine Kritik an Kritikern, die die Regierung in Israel kritisieren, denn Juden selbst zählen zu den schärfsten Kritikern der derzeitigen Regierung in Israel. Wozu also die Abwehr gegen einen nicht existierenden Vorwurf?

Bleibt die Frage übrig in der Untersuchung, ob Israel am Unheil in der Welt Schuld hätte. Für die Verantwortlichen der Studie ein Hinweis auf Antisemitismus, für andere eine berechtigte Kritik an der Politik Israels, verbunden mit der Behauptung, dass eine friedliche Politik Israels auch weniger Antisemitismus zur Folge hätte. 

Das ist eine schwierige Frage für uns Juden, denn die Behauptung ist nicht antisemitisch, sondern antizionistisch. Wie sollen wir uns verhalten, wenn man Israel die Schuld am Unheil in der Welt gibt und man selbst nicht einmal dort lebt, aber sich verpflichtet fühlt, die Existenz des Landes ohne die Regierung zu verteidigen.  Wenn es vielleicht bei der versteckten Kippa oder dem Palästinenser-Tuch noch wenigstens eine theoretische Chance gab, seine Kritiker zu täuschen, müssen wir das Spiel beim Thema Israel verlieren.  

Der Judenhass in Deutschland und Österreich, auch in Polen und Ungarn, benötigte einst keinen jüdischen Staat. Das funktionierte perfekt ohne ihn. Wenn also jetzt manche, die ihre Vorurteile gegenüber Juden nicht kontrollieren können, und dennoch nicht mit Rechtsextremen oder Islamisten in einen Topf geworfen werden wollen, sich lautstark zu Wort melden, weil sie ihre Zwänge loswerden müssen, verweisen sie einfach auf die Besetzungen, den angeblichen Apartheid-Staat, nennen Gaza ein KZ und vergleichen die Israelis mit den Nazis.

Und sie erwischen uns, ertappen uns trotz unserer Täuschungsversuche, denn wir können die Zweifel an der Existenzberechtigung nicht akzeptieren, und verraten uns mit einer Solidarität und Loyalität, die wir selbst nicht rational erklären können. Es ist halt einfach so. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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