WAS IST SCHON ESSENTIELL?

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Aus dem Corona Tagebuch (5)

Ich warte mit dem geforderten Abstand im Supermarkt. Vor mir ein älterer Mann, unrasiert mit wildem Haarwuchs, einer weiten Hose und einem dunklen Pullover unter dem offenen Mantel, auf dem verschiedenfarbige Flecken zu sehen sind und die Hälfte der Knöpfe fehlen, nähert sich der Kasse in einem Supermarkt mit einem fast leeren Wagen, in dem nur ein paar Flaschen liegen.

Bevor er alles auf das sich bewegende Gummiband legen kann, wird er von einem Polizisten aufgehalten.

»Entschuldigen Sie, das ist die Einkaufskontrolle, darf ich sie etwas fragen?« Wendet sich der Polizist an den älteren Mann.

»Wos is’ los? Ich hab nix gestohlen, Herr Inspektor, ich zahl das alles!« Antwortet der Mann nervös.

»Beruhigen sie sich, es geht ja nicht um Ladendiebstahl, ich muss nur überprüfen, ob alles auch essentiell ist, was sie kaufen wollen«, belehrt ihn der Polizist.

»Was heisst essen..essenzell«, der Mann hat Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen.

»E-ss-e-n-t-i-e-ll, also alles, was wichtig ist!« Sagt der Polizist langsam buchstabierend. 

»Ah so, dann is ja gut, sie haben mir schon Angst g’macht, Herr Inspektor. Und wieso, soll ich nur kauf’n, was wichtig ist? Ich kauf doch sowieso nur, was wichtig ist, warum soll I was kauf’n, was ned wichtig ist?« Reagiert der Mann.

»Jetzt hören sie schon auf mit dem Herr Inspektor!« Fährt ihn der Polizist an.

»In Ordnung, Herr Inspektor! Ah, schon wieder, ich kann mir des ned abgewöhnen!« 

Der Polizist ignoriert ihn und beginnt in dem Einkaufswagen herumzusuchen.

»Na, was haben wir dennda?« Der Polizist wird lauter und holt zwei Flaschen Rum aus dem Wagen.

»Was ma da haben? Was ma da haben«, äfft ihn der Mann nach, »na an Rum halt!«

»Und wieso soll der essentiell sein?« Fragt der Polizist.

»Ob der essenz…also essenzell…was weiß ich, also wichtig ist er auf jeden Fall!« Antwortet er.

»Und wofür? Warum sind zwei Flaschen Rum jetzt, in diesen gefährlichen Zeiten, wo es ums Überleben geht, so wichtig?« Fragt der Polizist. 

»Na ja, das ist so…«, der Mann kratzt sich an seinem unrasierten Kinn und wiegt den Kopf nach links und nach rechts, »den braucht mein Frau für’s desin..na ja, wie heisst des, desfiszieren, ja zum Saubermachen, wir wollen ja nix riskieren.«

Er grinst und freut sich, dass es ihm eingefallen ist.

»Des – in – fi – zieren, meinen sie wahrscheinlich. Aber wozu brauchen sie da einen Rum dafür?« Fragt der Polizist.

»Na bitte! An achtzigprozentigen Inländer überlebt ka Virus, das garantier ich ihnen!« Entgegnet der Mann.

»Das kann schon sein, aber wo verwenden sie den zum Desinfizieren?« Der Polizist schüttelt den Kopf, er wird langsam ungeduldig.

»Na überall, natürlich!« Auch der Mann wird lauter.

»Dazu gibts Seife und Desinfektionsmittel, dazu braucht man keinen Rum, jetzt hören sie schon auf und stellen sie ihn zurück!« Sagt der Polizist und stellt sich ihm in den Weg zur Kasse.

»De chemischen Mitteln, ha! Und Seife, jesas! Die kann ich doch nicht beim Essen verwenden!« Er lacht auf.

»Beim Essen? Also mir reicht jetzt, wenn sie sie nicht zurückstellen, könnten sie eine Strafe bekommen!« Erwiderte der Polizist.

»A Strafe! Nur weil ich vorsichtig bin! Schaun’s Herr Inspektor, es geht ja nicht nur ums Händewaschen, natürlich nehm I da die Seife. Aber denken’s amal ans Essen, des ist ja auch gefährlich!« Entgegnet er.

»Essen? Waschen sie die Lebensmittel mit Rum?« Jetzt muss auch der Polizist grinsen.

»Natürlich, wir des..desifizieren alles! Wir sind ja beide schon über sechzig und im gefährlichen Alter! Jeden Apfel, jede Birn wasch ma mit Rum, dann wird alles ab’geschält, zerschnitten, und über die Stückerln kommt noch amoi a Rum d’rüber. Und wenn mei Oide, entschuldigen, die Gattin, Palatschinken macht, zwei Stamperln Rum drüber, und ka Virus ist mehr drauf. A Schokkopudding mit Rum, ein Gedicht, sag ich ihnen, aber es natürlich nur für die Sicherheit. Sogar bei die Frankfurter, wenn’s mit Gulaschsaft g’macht werden, a Achter Rum, und nix kann passieren, ich will ja gar ned vom Tee und Kaffee reden, da muss a Rum rein. Jetzt in der Krise gibt die Gattin sogar ins Beuschel und übern Rindsbraten a Glas’l Rum, ma muss sich ja anpassen an die schwierigen Zeiten.» Antwortet der Mann und der Polizist kann plötzlich sein Grinsen nicht mehr unterdrücken und sagt:  »Ist schon in Ordnung, versuchen sie einfach gesund zu bleiben! Und wenn ihre Methode wirkt, dann schreiben sie dem Kurz, der soll das zum Gesetz machen!«

»Hallo! Schlafen sie?« Höre ich plötzlich eine Stimme. Es rief mir eine Frau zu, die hinter mir stand. Ich war an der Reihe an der Kasse und hatte im Stehen geschlafen und so einen wundervollen Traum gehabt, mitten am Tag, mitten im Supermarkt, über den ich noch lange lachen musste.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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