VOR DEM 6-TAGE-KRIEG (III)

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Photo: Government Press Office CC BY-NC-SA 2.0

Zur Vorgeschichte des Sechs-Tage-Krieges. Teil III
Warum wollte Nasser Israel zerstören?

„Es ist Zeit, die Demagogien zu beenden – Krieg mit Israel ist unmöglich!“ So lautete im März 1965 die Botschaft des tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba an die arabische Welt. Die palästinensischen Araber sollten einen moderaten und flexiblen Ansatz verfolgen, einschließlich der Anerkennung des jüdischen Staates in den vom UN-Teilungsbeschluss von 1947 festgelegten Grenzen. Araber und Israelis würden „nach der Abkehr vom Hass in Harmonie miteinander leben können“, argumentierte Bourguiba. „Die palästinensische Frage erfordert eine friedliche Lösung ohne Sieger und Besiegte.“

Ein Freund des jüdischen Staates war Bourguiba nicht. Er sah in Israel eine imperialistische Macht und ermutigte palästinensische Araber, ins israelische Territorium zurückzukehren, um ihren Guerillakrieg von innen zu führen. Sein Vorschlag folgte einem humanitären Impuls. Erschrocken über das konkrete Leid palästinensischer Araber, das er im März 1965 in einem jordanischen Flüchtlingslager sah, drängte er auf praktische Ansätze, das Los der Flüchtlinge zu verbessern und bot sich als Vermittler in Verhandlungen zwischen Israel und den Flüchtlingen an. Er signalisierte, dass er bei dieser Vermittlung Gamal Abdel Nasser, den ägyptischen Präsidenten, gern an seiner Seite hätte.

Für Nasser galt Bourguibas Ansatz jedoch als Verrat. Der Präsident Tunesiens vertrete in seinen Erklärungen „die gleichen Positionen wie Israel und die imperialistischen Länder, die Israel stärken“, klagte Nasser 1965 in seiner Rede zum 1. Mai.

Zu diesem Zeitpunkt war Gamal Abdel Nasser der einzige arabische Führer, der Bourguibas reformerischen Ansatz zum Durchbruch hätte verhelfen können. Im April 1955 wurde er als einer der Sprecher der Blockfreien-Bewegung neben Jawaharlal Nehru und Josip Broz Tito weltberühmt. Im September 1955 brüskierte er den Westen durch Waffengeschäfte mit der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. 1956 sorgte er für den Abzug der Briten aus der Kanalzone und verstaatlichte den Suezkanal. Seither verehrten ihn Millionen Arabern mit religiös anmutender Ehrfurcht während ihn die übrigen politischen Führer als Sprecher der Dritten Welt hofierten. Nasser war nicht zuletzt ein charismatischer Redner. Wenn überhaupt jemand in der Lage war, die Massenstimmung gegenüber Israel zu verändern, dann er.

Doch auch Bourguiba war kein politisches Leichtgewicht. Noch im Februar 1965 wurde er nicht nur in Saudi-Arabien und Jordanien mit allen Ehren empfangen, sondern auch in Kairo, wo man ihn im offenen Wagen durch die Straßen fuhr. Gemeinsam hätten Nasser und Bourguiba im Sommer 1965 die arabische Haltung zum Nahost-Konflikt verändern können. Nasser aber lehnte den Kurs seines Kollegen ab – er wollte den jüdischen Staat in keiner Form akzeptieren, sondern Israel zerstören. Warum? Und warum provozierte er wenige Monate später einen Krieg, bei dem innerhalb von sechs Tagen über 20.000 Araber starben?

Nassers prägende Jahre

1937 wurde Nasser Mitglied der Militärakademie. 1938 organisierte sich der Kern der „Freien Offiziere“, die 1952 die Macht übernahmen. Als 1942 „die Deutschen in der Nähe von Ägypten waren“, erinnerte sich Abdel Latif Boghdadi, ein Mitglied dieser Gruppe, „dachten wir, dass es unsere Pflicht sei, etwas gegen die Briten zu tun. Wir bildeten eine geheime Organisation in der Luftwaffe, um den britischen Rückzug aus der westlichen Wüste zu behindern und ihre Vorsorgungs- und Kommunikationslinien zu sabotieren.“

Von 1943 an begannen sich Nasser und einige seiner Militärkollegen mit Mahmud Labib, einem führenden Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft, zu treffen. Diese Versammlungen fanden einmal wöchentlich und „ununterbrochen bis Mai 1948 (statt), als die Mobilisierung für den palästinensischen Krieg [von 1948] begann.“ Gegen Ende der Dreißigerjahre erhielten die Muslimbrüder wegen ihrer antisemitischen Orientierung finanzielle Unterstützung aus Deutschland. In der Tat suchte Hassan al-Banna, der Führer der Bruderschaft, selbst den Palästina-Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen von 1947 antisemitisch zu erklären: Es habe sich „um ein internationales Komplott (gehandelt), den die Amerikaner, die Russen und Briten unter dem Einfluss des Zionismus ausführten.“ Dessen ungeachtet stellte die Bruderschaft 1948 mit mindestens einer Million Mitgliedern die bei weitem größte politische Organisation in Ägypten dar.

Nasser gehörte zu den Offizieren, die die Muslimbrüder für den Krieg von 1948 in Palästina ausbildeten. Es war kein Zufall, dass man 1949 in einem Unterschlupf der Muslimbrüder ein von Nasser gezeichnetes Handbuch über den Einsatz von Granaten fand. Im Juli 1952 fegte die Revolution der Freien Offiziere die Monarchie und die alten Machteliten hinweg. Zehn der vierzehn Offiziere, die jetzt Ägypten führten, hatten einst der Muslimbruderschaft die Treue geschworen. Mit gutem Grund verurteilte anfänglich die Sowjetunion diese „reaktionäre Offiziersgruppe“ und ihre neue „Militärdiktatur“.

So war es auch kein Zufall, dass Ägypten mit Beginn der Herrschaft der Freien Offiziere zum El Dorado für ehemalige Nazis-Kriegsverbrecher und Antisemiten wurde. Nehmen wir das Beispiel des Luftwaffenoffiziers Mohammad Radwan. Im Zweiten Weltkriegs schaffte er es bis nach Deutschland, wo ihn die Alliierten 1945 verhafteten. Anschließend wurde er in Ägypten zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. 1952 ließen ihn jedoch die Freien Offiziere frei und beschäftigten ihn in der Abteilung für öffentliche Angelegenheiten der ägyptischen Streitkräfte. Ein weiteres Fallbeispiel ist der neonazistische Verleger Helmuth Kramer. Er erhielt 1965 politisches Asyl in Ägypten, nachdem ihn ein deutsches Gericht für schuldig befunden hatte, „Nazi-Ideen zu verbreiten“. Kramer zufolge befasste sich Nasser persönlich mit seinem Asylantrag und gab ihm die Erlaubnis, seine Bücher weiter zu publizieren.

Da es Moskau 1959 abgelehnt hatte, Mittelstreckenraketen an Ägypten zu liefern, lud Nasser zudem mehr als 300 deutsche Ingenieure und Wissenschaftler ein, die sich zuvor an der Raketenforschung der Nazis beteiligt hatten. 1962 wurden deren Raketen in Kairo erstmals vorgeführt. „Das Personal der israelischen Botschaft in Paris trauert und die Juden in New York sind in Angst“, freute sich die ägyptische Tageszeitung Al-Ahram.

Die Protokolle der Weisen von Zion

Obwohl Nasser bestritt, ein Antisemit zu sein („Ich war noch niemals antisemitisch auf persönlicher Ebene“)betonte er die große Bedeutung der „Protokolle der Weisen von Zion“ für das Verständnis der Welt und behauptete öffentlich, dass „dreihundert Zionisten (…) das Schicksal des europäischen Kontinents regieren“. Wer so etwas glaubt, muss natürlich den Holocaust leugnen. Nasser leugnete ihn direkt („Die Lüge von den sechs Millionen ermordeten Juden wird von niemandem ernst genommen“) und indirekt, indem er behauptete, dass „Ben-Gurion (…) so viele Araber tötete, wie Hitler Juden getötet hat“.

Wer an die „Protokolle“ glaubt, wird auch versuchen, Israel zu zerstören. Nasser sah in Israel einen Brückenkopf des westlichen Imperialismus und hielt den Zionismus für eine inhärent expansive Ideologie. „Arabische Einheit – das bedeutet, dass Israel und die Expansionsträume des Zionismus liquidiert werde“, versprach der 1965 seinen Anhängern.

Diese Biographie schloss einen Kurswechsel jedoch nicht aus. Nassers Freund und Mitkämpfer Anwar al-Sadat hatte Adolf Hitler noch 1953 als „unsterblichen Führer“ gelobt. Dennoch erkannte er 26 Jahre später das Existenzrecht Israels an. Warum war Nasser unfähig zu solch einem Schritt?

Hier nun kommt der Anti-Zionismus der „arabischen Straße“ ins Spiel. Mehr als alles andere dürfte Nasser die Massenbegeisterung dazu angestachelt haben, seinen Provokationskurs gegenüber Israel immer weiter zu eskalieren. Geradezu ekstatisch hatte die arabische Welt auf die Schließung der Meerenge von Tiran reagiert.  So fand Nassers höhnische Kriegsaufforderung an die Israelis –  „Ihr seid willkommen!“ („Ahlan Wa-sahlan!“) – überall in der arabischen Welt begeisterten Widerhall. Aus allen arabischen Hauptstädten trafen Glückwünsche und Botschaften der Unterstützung ein. Delegationen u.a. aus Irak, Syrien, Algerien und  Kuwait gaben sich in Kairo die Klinke in die Hand.

Über Nacht hatte Nassers Prestige in der arabischen Welt neue Höhepunkte erreicht. Diese Begeisterung, diese massenhafte Hoffnung, in naher Zukunft einen voll etablierten Staat zu zerstören, ist aber außergewöhnlich und nicht leicht zu erklären.

Anti-Zionismus – der Ausnahmefall

Antisemitische Agitation war in den arabischen Ländern nichts Neues, wie jüngere Studien über die Nazi-Propaganda in der arabischen Welt belegen. So riefen zwischen April 1939 und April 1945 arabischsprachige Radiosendungen aus Berlin tagtäglich dazu auf, einen jüdischen Staates zu verhindern und die in Palästina lebenden Juden zu töten. Derartige Programme erreichten die analphabetisierte Masse; sie waren beliebt und wurden gehört. Im Zentrum stand die immer wiederkehrende Behauptung, dass der Zionismus als inhärent expansive Ideologie den Islam zu zerstören suche. Je deutlicher sich die militärische Niederlage der Nazis abzeichnete, desto schriller wurden die arabischsprachigen Radio-Warnungen vor dem zionistischen Projekt.

Es besteht kein Zweifel, dass das Echo dieser Propaganda während der ersten Nachkriegsjahre im Nahen Osten weiter nachhallte. So berichten Historiker übereinstimmend, dass es 1948 vor allem der Druck der arabischen Straße war, der die zögerlichen Vertreter der Arabischen Liga zum Krieg gegen Israel trieb. Solch Wechselbeziehung zwischen aufgepeitschter Masse und arabischer Staatsführung wiederholte sich 1967, wenn auch in veränderter Form.

Natürlich konnte im Jahr 1967 – 22 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – von einer unmittelbaren Nachwirkung der Nazi-Propaganda keine Rede sein. Jetzt ging es darum, die arabische Niederlage von 1948, die man in der Zwischenzeit weder reflektiert noch wirklich zugegeben hatte, zu rächen. Jetzt präsentierte die arabische Straße ihre Quittung für die Taktik arabischer Herrscher, die Wut der Masse über selbstverschuldete Versäumnisse immer wieder auf Israel, dem allseits verfügbaren Sündenbock, zu lenken.

Doch hatten weder Israel noch der Zionismus den Krieg von 1967 provoziert. Nassers Zerstörungswut und die damit verbundene Begeisterung seiner Anhänger lassen sich nur dann verstehen, wenn wir den antisemitischen Impuls für den Nahen Osten mit in Rechnung stellen, der von der Nazi-Periode in die Nachkriegszeit und dann an die nächste Generation weitergegeben wurde.  Nasser und die ihn umgebende Stimmung waren beim Angriff auf Israel Eins: Der Präsident wurde von den denselben zerstörerischen Gefühlen ergriffen, die er bei den Massen erfolgreich zu entflammen verstand.

Jassir Arafat bei Nasser

Es sind nicht Israel und der Zionismus, die diesen außergewöhnlichen Sachverhalt geschaffen haben, den wir als Nahostkonflikt zu bezeichnen pflegen, denn es gibt viele nationale Bewegungen und Dutzende neuer Staaten, die den Vereinten Nationen seit ihrer Gründung beigetreten sind. Das einzig Außergewöhnliche, das den jüdischen Staat zum Ausnahmestaat macht, ist der unablässige Aufruf, ihn zu zerstören. Dies galt 1948 und 1967; dies gilt mit Einschränkung auch noch heute. Kein anderer Staat der Welt ist mit dem Aufruf, ihn zu zerstören, konfrontiert.

„Es ist Zeit, die Demagogien zu beenden – Krieg mit Israel ist unmöglich!“ Nach diesem ungewöhnlichen Appell lud Golda Meir, die damalige Außenministerin, Habib Bourguiba nach Israel ein. Eine friedliche Lösung der Palästina-Frage, erklärte Meir im Frühjahr 1965, sei auch im Interesse der Araber, die in Not und Unsicherheit lebten. „Es ist ungerecht, dass diese Völker gezwungen werden, bis zu 70% ihres Volkseinkommens zu opfern, um sich auf einen Krieg vorzubereiten, der mörderisch ist und kein Problem löst.“ Diese prophetischen Worte, kurz vor dem Sechs-Tage Krieg ausgesprochen, gelten auch jetzt noch.

Teil 1: Ein Gerücht und seine Folgen

Teil 2: Moskau verliert die Kontrolle

Dieser Beitrag erschien zuerst auf MENA-WATCH. Anmerkungen und Fußnoten ebendort.

Über den Autor / die Autorin

Matthias Küntzel

Dr. Matthias Küntzel ist ein Politikwissenschaftler und Historiker aus Hamburg. 2011 ehrte die amerikanische Anti-Defamation League (ADL) sein Engagement gegen den Antisemitismus mit dem Paul Ehrlich – Günther Schwerin Menschenrechtspreis. Er ist Mitglied der ‚Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik‘, des ‚Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands‘ und der ‚Association for the Study of the Middle East and Africa‘ (ASMEA).