VIAGRA DIALOG

V

Von blauen Pillen und anderen Wundermitteln

»Willst du noch zu mir kommen?« Fragte er sie. 

Sie saßen in einem Restaurant vor einer Tasse Kaffee nach einem ausführlichen Abendessen und einigen Gläsern Wein. Beide geschieden, die Kinder aus dem Haus, auf irgendwelchen Universitäten, irgendwo in der Welt, beide alleine in großen Wohnungen.

Sie antwortete nicht sofort, rührte im Kaffee mit einem kleinen Löffel, obwohl sie keinen Zucker hineingegeben hatte.

»Vielleicht«, antworte sie dann zögernd.

Sie dachte weniger an die mögliche Bettszene als an das eigenartige Drücken im Magen nach dem langweiligen Essen und den drei Gläsern Wein. Den viel zu süßen Pudding hatte sie nur bestellt, um genau dieser Frage, die kommen musste, auszuweichen. Wozu mache ich das, fragte sie sich selbst und hörte nicht auf, im Kaffee zu rühren. Es war das dritte Abendessen, einmal gingen sie ins Kino. Er gefiel ihr immer noch besser als die vielen anderen, die sie meist kein zweites Mal getroffen hatte. Aber jetzt zu ihm nach Hause, mit vollem Magen?

»Na ja, das ist so, es würde mir helfen, wenn du mir das jetzt schon sagst…«, sagte er leise, unterbrach ihre Gedanken und starrte auf seine Tasse, als wollte er vermeiden, ihr in die Augen zu sehen.

Sie verstand ihn nicht und fragte, warum sie das nicht später entscheiden könnte, je nachdem wie sich der Abend noch entwickeln würde.

»Wenn wir gleich zu mir gehen, müsste ich jetzt meine Pille nehmen«, sagte er noch leiser, sie hörte ihn kaum.

»Was musst du nehmen?« Fragte sie und grinste. Sie hatte das Drücken im Magen vergessen.

»Na ja, du weißt schon«, antworte er.

»Jeden Satz beginnst du mit na ja… ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Hast du Sodbrennen? Dann nimm doch einfach etwas dagegen!«

Sie hörte auf zu rühren und legte den Löffel neben die Tasse auf den Tisch. 

»Also gut, ich sag’ es einfach wie es ist. Ich fühle mich einfach sicherer, falls du noch zu mir kommst, und dann … wenn ich eine kleine Unterstützung vorher nehme!« Jetzt sprach er ganz normal, sah ihr ins Gesicht, als ob er ihr ein neues Auto verkaufen wollte. 

»Das hat mir noch nie ein Mann so offen gesagt«, antwortete sie und lachte laut auf.

»Na ja … verdammt, jetzt sag ich es schon wieder… also bisher nahm ich es manchmal, und dann wieder nicht, dann war es oft zu früh und dann wieder zu spät…« 

»Ja, ja, ich weiß schon, dass ihr Männer immer solche Probleme habt, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber ich bin eine Gegnerin von Viagra, sag’ ich dir ganz ehrlich. Es ist das Wundermittel für alte Männer, ihren Verfall zu verbergen, und sie betrügen die Biologie damit und glauben wirklich, sie seien noch jung und aktiv!«

Als sei sie plötzlich aufgewacht aus ihrer Langweile, wurde sie lauter und lauter, bis ihr Gegenüber sich umdrehte, ob nicht jemand am Nebentisch zuhören würde.

»Interessant. So habe ich das noch nie gesehen«, antwortete er, rieb mit dem Finger auf seiner Nase herum und fuhr dann fort:

»Und… sagen wir, wenn du mich jetzt plötzlich nicht mehr hörst, würdest du dann ein kleines Hörgerät in deinem Ohr verstecken? Oder du bist begeisterte Schifahrerin und deine Knie machen nicht mehr mit. Entscheidest du dich für ein künstliches Gelenk, oder lässt du der Biologie einfach ihren Lauf und hörst auf mit dem Schifahren?«

»Das kann man doch nicht vergleichen. Einmal geht es um eine rein technische Hilfe bei altersgemäßer Abnützung und das andere Mal um den Wahn der Männer, ewig potent zu sein!« Entgegnete sie entrüstet und so laut, dass tatsächlich das Ehepaar am Nebentisch zu ihnen blickte und zu flüstern begann. 

Er schüttelte den Kopf, lächelte und sagte: »Dann sieh es doch auch bei mir als technische Hilfe bei einer altersgemäßen Abnützung.«

Sie lachte.

»Du hast leicht reden, wir Frauen verfallen einfach und verlieren unsere Attraktivität, für gleichaltrige und auch jüngere Männer, und die Alten konservieren ihre Jugend mit chemischen Hilfsmitteln!«

Wieder wurde sie lauter, und ihr Gegenüber hob beide Hände, um sie zu beruhigen.

»Ja, das nennt man Medizin! Die korrigiert, was nicht funktioniert, wenn der Körper versagt. Man stirbt nicht mehr an einer Infektion, neutralisiert den sauren Magen und verjagt die Schimmelpilze von seinen Fußsohlen, alles mit chemischen Hilfsmitteln«, sagte er.

»Trotzdem, es ist irgendwie anders, du überzeugst mich nicht, ich finde es verdammt diskriminierend gegenüber den Frauen«, sagte sie, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Und wie stehst du zur kosmetischen Chirurgie? Brüste vergrößern, Scheide verengen, das Gesicht glätten, die Lippen aufblasen. Was ist der Unterschied? Oft ist es gar keine Korrektur des Verfalls, wie du es beschreibst, sondern es war nie besser, schon in der Jugend nicht«, sagte er und grinste. Was sollte ihr jetzt noch einfallen.

»Es geht nicht um Verschönerung bei euch Männern, es geht um männliche Allmachtsphantasie. Aber bitte, was kümmert es mich, nimm deine Pille, ich habe nichts dagegen. Warum sollte ich auch etwas dagegen haben, wenn du dich dann sicherer fühlst, ist es auch für mich ein Vorteil.«

Immer noch hatte sie die Arme verschränkt und es lag etwas Bedrohliches in ihrer Stimme. Er wusste einen Moment lang nicht, was er tun sollte. Dann bat den Ober um ein Glas Wasser. Als er es brachte, legte er die Pille auf seine Zunge, nahm einen großen Schluck Wasser und sah auf die Uhr.

»Hast du es eilig jetzt«, fragte sie ihn.

»Nein, ich versuch’ nur, mir auszurechnen, ab wann sie wirkt«, antworte er.

»Ach ja stimmt, jetzt kommt die Wirkungskurve. Wie viel Zeit haben wir? Sollen wir jetzt gleich gehen? Wann ist der richtige Zeitpunkt für dich, ich kann mich ganz nach der Chemie richten!« Sie lehnte sich vor und legte ihr Gesicht in die Hände und ihre Ellenbogen auf den Tisch.

Sie macht sich über mich lustig, dachte er und ärgerte sich, die verdammte Pille genommen zu haben. 

»Was passiert, wenn wir nicht mit einander ins Bett gehen, jetzt, nachdem du die Pille schon genommen hast?« Fragte sie ihn.

»Was soll schon passieren, nichts passiert. Mach mich jetzt nicht zum Idioten hier!« Er wurde nervös und unruhig.

Sie lachte wieder.

»Sei nicht so sensibel, es geht doch nur um ein technisches Hilfsmittel. Wie eine Krücke, ohne sie bleibst du hier sitzen und mit ihr kannst du dich bewegen!«

Er trank seinen Kaffee, der kalt war und grauslich schmeckte.

»Schade, dass es so etwas nicht für Frauen gibt. Ich würde es sofort einnehmen!« Sagte sie plötzlich.

»Ich hab’ dich doch gebeten, dich nicht über mich lustig zu machen!« Sagte er.

»Ich meine das ganz im Ernst. Warum eigentlich nicht, du hast ja recht, wir greifen überall mit Hilfsmitteln in unseren Körper ein, warum nicht auch dort«, sagte sie und sprach langsam und nachdenklich.

Der Ober kam und fragte, ob sie noch etwas bestellen wollten, doch beide ignorierten ihn.

Die nächsten Stunden sprachen sie über ihre Fehler, Leiden und Probleme, die seelischen und die körperlichen, wie sie damit umgehen und versuchen würden, sich zu helfen.  Wie sie manchmal glücklich das richtige Mittel gefunden hatten und wie viele Hilfsmittel sie so gerne hätten, die es gar nicht gab. 

Schon bei einfachen Kopfschmerzen stellten sie fest, habe jeder eine andere Methode, andere Medikamente und manchmal andere Tricks, um sie loszuwerden. Schlafstörungen, die sie quälten, Magenschmerzen, Übelkeit, wenn sie zu viel getrunken hatten, Atembeschwerden beim Bergsteigen und wackelige Knie bei längerem Tennisspielen. So wanderten sie durch ihre Unvollkommenheiten und versuchten einander mit guten Ratschlägen zu beeindrucken. Ihre Mängel und Reaktionen wurden zum Thema des Gesprächs, und sie wollten sich gegenseitig helfen und beruhigen mit Erzählungen über absurde Hürden in ihrem Leben, und wie sie versuchten, sie zu überwinden. Beide tauchten in das Leben des anderen, als habe es nie diese versperrende Wand der immer wieder betonten Perfektionen und Heldentaten während der langweiligen Abendessen gegeben. 

Bis der Ober zu ihrem Tisch kam und höflich fragte, ob er die Rechnung bringen könnte, sie würden bald schließen.

Sie blickte auf die Uhr und riss die Augen auf.

»Was! Schon so spät!«

Als sie das Lokal verließen, schob sie ihren Arm unter seinen, und er berührte ihre Hand. Sie stiegen in ein Taxi und fuhren zuerst zu ihrer Wohnung. Als sie ausstieg gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

»Sehen wir uns wieder?« Fragte er.

»Ja gerne!« Sagte sie begeistert und lächelte, ging ein paar Schritte in Richtung ihrer Eingangstür, drehte sie sich, kam zum Auto zurück und klopfte an sein Fenster. Er öffnete es.

»Aber nur, wenn du wieder so eine Pille nimmst«, sagte sie und grinste wie ein glückliches Kind.

Er lachte und dachte, was für eine schöne Frau sie doch ist.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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