VERLUST DER LUST

V

Foto: Kobako, CC BY-SA 2.5 

Aus dem Corona Tagebuch (11)

»Hallo, Peter, wie gehst dir?« Fragte mich ein Bekannter. Er rief um neun Uhr morgens an, nachdem ich mühsam die verbrannten Ränder des Toasts wegkratzt hatte und dann versuchte, die schwarzen, kleinen Kohleteilchen, die sich in und rund um die Abwasch verteilt hatten, weg zu spülen.

Bevor ich noch reagieren konnte, fragte er mich, was ich zu Schweden sagen würde, und wieder sprach er weiter, ohne mich antworten zu lassen und sagte: »Das wird in einer Katastrophe enden!«

»Meinst du?« Fragte ich. Mehr sagte ich eigentlich nicht, doch er überfiel mich mit einem Redeschwall, wie ich ihn nur verharmlosen könnte. Als ich endlich zu Wort kam, sagte ich, dass ich mich nicht wirklich auskennen würde, und mir außerdem Schweden völlig egal sei, da ich nicht in Stockholm, sondern in Wien leben und mich hier nach fünf Wochen Hausarrest anderes beschäftigen würde.

»Ja, und die Todesfälle dort, das berührt dich nicht, wie diese Regierung ein ganzes Land gefährdet?« Sagte er erregt und laut, und ich stand in der Küche mit zwei Stück Toast in den Händen und wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte.

»Weißt du, was mich beschäftigt?«, fragte ich ihn nach einer Pause, in der ich gehofft hatte, er würde sich enttäuscht verabschieden, da ich seine Sorgen um Schweden nicht teilen würde. Er murmelte etwas, wie solle er das wissen, wenn mich nicht einmal Schweden interessieren würde, und ich sagte: »Ich hab‘ gelesen, dass der Durchschnittsbürger in Österreich ca. 20 Rollen Klopapier derzeit zu Hause hat. Hier mein Problem. Ich weiß nicht, wie viel Stück eine Rolle hat, weiß auch nicht, wieviel Stück der Durchschnitt zum Abwischen nach dem Scheißen benutzt und weiß nicht einmal, wie oft der Durchschnitt Scheißen geht in Österreich. Wie soll man so einen Vorrat berechnen?«

»Du verarscht mich doch nur«, sagte mein Bekannter und legte auf.

Später am Vormittag ging ich in die Bäckerei in der Nähe meiner Wohnung, ein kleines Geschäft mit Brot, Gebäck und Mehlspeisen. Ein Ort, an dem ich zu Normalzeiten fast täglich Zeitungen lese und den von mir dort verehrten Topfengolatschen verschlinge. Diesmal stand ich zwischen den Wartenden vor dem Geschäft mit dem vorgeschriebenen Abstand und wartete geduldig, bis nur eine Person in der Bäckerei war, und ich eintreten durfte. Eine junge Frau sprang neben mir von der Straße auf den Gehsteig und wieder runter, auf und ab, unermüdlich, und die halb geöffnete Bluse zeigte durch das ständige Bewegen bald mehr, als in einem jugendfreien Film erlaubt wäre. Wir betraten gemeinsam die Bäckerei, sie trug einen bunten Mundschutz, enge Hosen und eben diese halbgeöffnete Bluse, die eine angenehme Abwechslung in Zeiten wie diesen bot.

»Und? Gefällt sie ihnen?« Fragte sie plötzlich und sah mich an, und ich dachte mir, nein, heute nicht, mit mir heute nicht, und antwortete: »Die offene Bluse meinen sie? Ja, gefällt mir wirklich!« Und sie schien erschrocken zu sein über meine Direktheit, zischte »Schwein« und sprach zur Verkäuferin ohne mich weiter zum beachten.

Endlich war ich an der Reihe. Ich blickte auf den von mir geliebten Topfengolatschen und murmelte vor mich hin, bis die Verkäuferin mich unterbrach und bat, lauter zu sprechen, sie könne mich nicht verstehen.

»Ich hab‘ mich nur mit dem Topgengolatschen unterhalten«, sagte ich und fuhr fort, dass er heute wirklich kümmerlich aussehe. »Das ist der gleiche wie jeden Tag«, antworte sie mit einem leichten Unterton der Entrüstung.

»Der ist wirklich blass, sonst schaut er viel dunkler aus, und er ist wahrscheinlich auch nicht knusprig heute«, sagte ich.

»Blass san‘ sie vielleicht, weiß wie Topfen im Gesicht, aber nicht meine Topfengolatschen, und wenn er ihnen nicht passt, dann kaufen’s halt woanders ein!« Fuhr mich die Verkäuferin an. Ich starrte weiter auf den Golatschen und antworte, ich könnt’ schon wo anders einkaufen, aber vorher müsst’ ich mich noch entschuldigen, und als sie sagte, sie lege keinen Wert auf meine Entschuldigung, antworte ich: »Nicht bei ihnen, beim Topfengolatschen!« Dann verließ ich die Bäckerei, hörte noch draußen auf der Straße ihr Schimpfen und war mir sicher, dass ich jetzt einen der letzten Fluchtpunkte in diesen schwierigen Zeiten auf ewig verloren hatte.

Zu Hause fragte mich meine Frau, wieso ich ohne Mehlspeisen zurückgekommen sei, und ich versuchte, es zu erklären, aber es wurde wieder nur unverständliches Stammeln. Irgendwie hatte ich die Fähigkeit verloren, zusammenhängende Sätze zu formulieren.

Sie kam aus der Dusche und wirkte wie ein frisch gewaschenes, bügelfreies Hemd, das pflegeleicht sich durch die Räume bewegt und dann irgendwo hängt, eben einfach nur da hängt. 

Ich erinnerte mich an ein anderes Telefonat mit einem Freund, dessen Ehepartner noch immer im Ausland ist und nicht zurückkann oder will, wer weiß das schon. Er betont jedes Mal, wie glücklich ich doch sein müsse, mit meiner Partnerin diese schwierigen Zeiten gemeinsam zu überstehen, und ich sage ihm jedes Mal, wie glücklich er doch sein könnte, in diesen Zeiten allein zu sein. 

»Mit dir kann man nicht mehr reden, du bist immer so aggressiv und beleidigend«, sagte er verärgert, doch ich widersprach und erklärte ihm, ich hätte nach diesen Wochen des Stillstands den Zustand der absoluten Gleichgültigkeit und Lustlosigkeit erreicht. Ich würde nicht mehr das ›Beste‹ daraus machen, weil mir das ›Beste‹ nicht mehr einfallen würde, und was ich als ›Bestes‹ vermutete, nicht einmal das ‚Halb-Beste’ sei, und wenn mir noch einmal einer erklären würde, wie sinnvoll man diese Zeiten doch gestalten könne, ich diese Person bis zum Ende der Isolation aus meinem Telefonverzeichnis streichen würde. Ich hätte einfach keine Lust mehr, hielte die Vorschriften zwar brav ein, doch würde mir die Freiheit erlauben, jetzt einfach frustriert zu sein, und damit auch unfreundlich, unsensibel, beleidigend, aggressiv und verletzend zu jedem und jeder.

Ich sah meine Frau nicht, die hinter mir stand und zugehört hatte, und plötzlich lachte, mir das Telefon aus der Hand nahm und zu dem Freund sagte: »Nimm ihn nicht ernst, du kennst ihn ja, er tut so, als ob ihm das Virus jetzt seine Laune erlaube, aber wir kennen ihn ja, er ist immer so!«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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