»REICHE JUDEN«

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Zwischen Vorurteil und Normalität

Der vierzehn jährige Robert sitzt gegenüber seinen Eltern neben der Schwester Judith, die zwei Jahre älter ist. Wie jeden Sonntagabend liegt ein knusprig gebratener Lammschlögel in einer tiefen Pfanne auf dem Esstisch, eine Schüssel mit Reis und eine mit Gemüse. Das Lieblingsessen des Vaters. Die anderen in der Familie haben es eigentlich auch ganz gern, wenn auch die Tochter jedes Mal jammert, man könnte doch wenigstens einmal etwas anderes am Sonntag essen. Dann antwortet der Vater, die Kinder hätten doch die ganze Woche für sich und könnten wählen, was es zum Essen gäbe, am Sonntag sei er an der Reihe.

Robert unterbricht diesmal die jeden Sonntag sich wie der Braten wiederholende Diskussion und fragt den Vater: »Sag Papa, sind wir eigentlich reich?«

Judith verschluckt sich fast vor lauter Lachen und auch die Eltern legen das Besteck weg und beginnen zu kichern als wären vier Gleichaltrige am Tisch.

»Wie kommst darauf?« Fragt ihn der Vater.

»Einer meiner Mitschüler hat mich gefragt«, antwortet Robert.

»Und? Wie kommt der dazu, dich das zu fragen?« Mischt sich Judith ein und will genau wissen, wer es war, da sie in dieselbe Schule geht und vermutet, sie könnte ihn kennen.

»Na der, der neben mir sitzt, der Karli«, sagt Robert, schneidet ein Stück Lamm ab und stopft es in den Mund.

»Das ist schon eine komische Frage«, sagt jetzt die Mutter. Außer Robert hat jeder aufgehört zu essen.

»Wieso soll das komisch sein«, antwortet Robert, »er hat gesagt, sein Vater hätte ihm erzählt, dass Juden reich wären.«

Jetzt wird es plötzlich still im Esszimmer und man hört nur mehr die Kaugeräusche von Robert, der sich nicht unterbrechen lässt.

»Wenn er das wirklich gesagt hat, na ja, ich glaube, ich muss mal mit deinem Klassenvorstand sprechen«, sagt plötzlich der Vater und blickt ernst auf seinen Teller, als wäre ein Unglück geschehen, und Robert starrt ihn an und versteht nicht, was der Grund dafür sein könnte.

»Warum?«, fragt Robert erstaunt, »nur weil der mich was gefragt hat?«

»Der hat dich nicht ›was‹ gefragt, das ist eine Unverschämtheit!« Sagt der Vater, jetzt schon leicht erregt und etwas lauter. Doch Robert versteht immer noch nichts.

»Was ist daran so schwer zu verstehen, du Idiot!« Sagt Judith, und Robert springt auf, versucht sie von hinten an den Haaren zu ziehen und wiederholt immer wieder »selber Idiot«, »selber Idiot« bis ihn die Mutter ermahnt, sich wieder zu setzen.

»Jetzt beruhigen wir uns doch wieder«, sagt die Mutter, »was hat er dich denn sonst noch gefragt?«

»Gar nichts«, antwortet Robert, »nur, dass Juden reich wären und alle Banken besitzen und sich es durch ihre Beziehungen immer richten könnten, und ob wir auch reich wären.«

»Ich glaub das nicht!« Fährt der Vater auf und schreit, er würde nicht zum Klassenvorstand, sondern morgen gleich zum Direktor gehen. Alle haben zum Essen aufgehört und sprechen wild durcheinander. Robert sagt dem Vater, er solle ja nicht in die Schule kommen, die Mutter unterstützt den Vater, man dürfe sich das nicht gefallen lassen, und die Schwester lacht nur und sagt immer nur »der Karli, der Karli, ich pack es nicht…«.

Plötzlich schlägt der kleine Robert mit der Faust auf den Tisch und schreit seinen Vater an: »Der Karli ist mein Freund, nicht deiner, und der kann mir sagen, was er will, das geht dich gar nichts an!«

Der Vater sieht ihn erstaunt an, damit hatte er nicht gerechnet.

»Ja verstehst du denn nicht, was er sagt?« Fragt der Vater den Sohn. Doch dieser sitzt da, zurückgelehnt mit verschränkten Armen, macht ein trotziges Gesicht und sagt: »Er kann sagen, was er will, er ist mein Freund, nicht deiner!«

»Robert, sei doch mal vernünftig«, versucht es die Mutter mit leiser verständnisvoller Stimme, »er kann dich doch nicht beleidigen, das kannst du dir, und das können wir alle uns nicht gefallen lassen.«

Doch Robert hatte sich nicht bewegt, sitzt vor seinem Teller, immer noch die Armee verschränkt und wiederholt den Satz: »Er ist mein Freund, nicht eurer!«

»Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen, wo die Grenzen sind, und wo wir uns wehren müssen. So hab‘ ich euch beide doch erzogen!« Sagt der Vater in einem ruhigen, belehrenden Ton, als würde er sich vor Gericht verteidigen.

Judith hatte zum Lachen aufgehört und sagt plötzlich zu ihren Eltern: »Ihr habt keine Ahnung, wie es in der Schule zugeht. Für euch ist jede Bemerkung über Juden immer gleich ein Vorurteil und eine Beleidigung, aber wir sehen das nicht so, es ist nicht so schlimm, es sind meistens nur Witze.«

»Das sind keine Witze!“ Fährt sie der Vater an, „das ist blanker Antisemitismus“.

»Ich mach doch auch Witze über den Karli«, sagt Robert plötzlich.

»Na, was für welche?« Fragt ihn Judith.

»Seine Eltern sind aus Deutschland, die reden so komisch, und wir nennen ihn immer nur Piefke!« Sagt Robert, und Judith lacht laut und auch die Mutter verbeißt sich ein Grinsen.

»Das kann man nicht vergleichen«, sagt der Vater, etwas leiser als vorher, und er spürt, wie er langsam hier an Boden verliert.

»Jeder macht über jeden Witze in der Klasse, keiner wird verschont, und alle lachen über jeden. Die einen machen blöde Witze über die Türken, die nach Knoblauch stinken, andere über das eine Mädchen, das ein Kopftuch trägt und über den Franzi, weil er so fett ist. Ich bin dort nichts Besonderes, über den keiner einen Witz machen darf, weil dann schon meine Eltern beim Direktor sind. Der Geschichtslehrer schaut mich immer an, wenn es um die Nazizeit geht und wartet, ob ich etwas sagen will. Der Deutschlehrer gibt mir nur Referate von Schriftstellern, die Juden sind. In Geographie, wenn wir über den Nahen Osten reden, warten alle, ob ich mich dazu melde. Und das alles nur, weil ihr immer in die Schule rennt. Ich will das nicht mehr, ich brauch das nicht. Ich werd‘ schon alleine fertig damit.« Sagt Robert langsam, fast stotternd, ohne seine Eltern anzusehen. 

»Ich versteh dich nicht, ich will dich doch nur unterstützen«, sagt der Vater nach einer längeren Pause.

Robert spring plötzlich auf, weicht vom Tisch weg und sagt immer lauter werdend: »Ihr helft mir dort nicht, ich will das nicht mehr, ich will es nicht, lasst mich in Ruhe, keiner tut mir etwas in der Schule, jeder ist irgendwie anders und das macht auch nichts, manche sind meine Freunde ,und andere kann ich nicht leiden, und wenn einer mich sekkiert, weil wir Juden sind, ist es auch mein Problem, ich bin jeden Tag dort, ich sehe alle in der Früh, in der Pause und am Sonntag zum Fußballspielen. Und ich will auch nicht mehr, dass einer von euch mich zu einem Geburtstag bringt oder abholt. Jedes Mal, wenn ihr mit den anderen Eltern redet, musst du ihnen sagen, dass wir Juden sind, das kommt gleich nach ein paar Sätzen. Du Papa, immer das gleiche, du bist in Israel geboren und dein Sohn hatte so eine tolle Bar Mitzwa in Wien in der Synagoge, und wir würden kein Schweinefleisch essen, musst du dem Klassenvorstand sagen vor allen anderen Eltern bei der Elternversammlung für den Schikurs. Lasst mich in Ruhe, wir sind nichts besonders, ich will so sein wie alle anderen in der Klasse!«

Robert nimmt die Serviette vom Tisch und wischt sich das Gesicht ab, es war nass und rot geworden vor lauter Aufregung.

»Robert hat schon recht, irgendwie. Ich verstehe ich euch ja, ihr wollt uns helfen, aber wir wollen auch nicht immer die armen Juden sein, die man beschützen muss. Ihr müsst das uns überlassen, was uns verletzt und was wir einfach wegstecken«, sagt Judith und sieht ihre Eltern an.

»Ich glaub‘ das jetzt nicht!« Auch der Vater steht auf und weicht vom Tisch weg.

»So ganz falsch ist das auch wieder nicht«, sagt die Mutter und geht zum Vater, nimmt ihn am Arm und sieht ihm in die Augen, »lass sie doch die beiden, was wissen wir schon, wie es in der Schule zugeht, und was ihre Probleme dort sind.«

»Mein ganzes Leben kämpfe ich gegen den Hass hier und ihr fällt mir jetzt alle in den Rücken?« Sagt der Vater.

Doch die Mutter lässt ihn nicht los und schaut ihm weiter direkt in die Augen und sagt: »Jetzt sind unsere Kinder dran, die müssen selbst entscheiden, was sie akzeptieren und was nicht, ich glaub nicht, dass sie sich einfach beleidigen lassen, so sind sie nicht, die beiden, dazu haben wir sie nicht erzogen.«

»Papa, schau, wir spüren doch, wo die Grenzen sind, wir sind ja nicht blöd, wir wissen genau, wer nur einen dummen Witz macht oder uns wirklich nicht leiden kann, vertrau uns einfach, wir lassen uns nicht nichts gefallen, aber wollen auch nicht immer die ›Anderen‹ sein. Robert und ich möchten so sein wie alle anderen«, sagt Judith und lächelt Robert zu. Auch sein Gesicht beruhigt sich, und er setzt sich wieder. Die Mutter zerrt den Vater zurück zum Tisch, bis alle vier wieder auf ihren Sesseln sitzen. Sie essen weiter, keiner spricht und jeder schaut nur auf seinen Teller, bis der Vater sein Besteck weglegt und sagt:

»Eigentlich wollt‘ ich, als ich in die Schule ging, auch immer so sein wie alle anderen.«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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