PESSACH IN NEW DELHI

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Alles falsch gemacht und trotzdem richtig

Vor mehr als 25 Jahren zu Beginn der 90er Jahre lebte ich in New Delhi als Auslandskorrespondent einer deutschen Tageszeitung. An den Alltag in dieser extrem verschmutzten und übervölkerten Stadt gewöhnte ich mich nur langsam, und es gab nicht wenige Tage, an denen ich diesen ›Traumjob‹, wie ich ihn mir vor dem Antritt vorgestellt hatte, verfluchte.

Als im ersten Jahr meines Aufenthalts das jüdische Fest Pessach näher rückte, begann ich mich mit der jüdischen Geschichte der Stadt zu beschäftigen und entdeckte nicht weit von unserer Wohnung die kleine Synagoge und das jüdische Zentrum von New Delhi, die Judah Haym Synagoge. Damals lebten noch etwa 10 bis 20 jüdische Familien in New Delhi, die das jüdische Zentrum nur selten besuchten, doch es gab einen Rabbiner, der hauptberuflich als Beamter der Stadt arbeitete.

Die Synagoge war ein niedriges, unscheinbares Haus mit gelbem, lehmartigen Verputz und nur einem Raum an dessen Front anstelle eines Bimah, des Podiums, auf dem aus der heiligen Schrift gelesen wird, ein einfacher Tisch stand mit zwei Kerzen und einem Lesepult. Der beamtete Rabbiner las dort stehend aus der Tora jeden Freitagabend, und wenn genügend Touristen in der Stadt waren, die den Gottesdienst besuchten, lud er sie auch Samstagvormittag ein.

Eine Woche vor Seder, dem wichtigsten Tag während Pessach, kündigte er eine besondere Veranstaltung an. Er wolle einen gemeinsamen, frühen Abend organisieren, so dass jeder später zum Abendessen zuhause sein könne. Als besondere Überraschung versprach er die Verteilung von Matzes, einem wichtigen Symbol für Pessach, das man unmöglich in Delhi bekommen konnte. Er habe schon vor einigen Tagen eine Bestellung aus Bombay erhalten, wo die jüdische Gemeinde mehrere tausend Mitglieder habe, und es ein funktionierendes jüdisches Leben gebe. 

Wir trafen uns an diesem Nachmittag in der Synagoge, vielleicht zwanzig Frauen und Männer und ein paar Kinder. Unter ihnen zwei indische Familien, ein paar Touristen aus Frankreich und den USA und drei oder vier Ex-Pats, die in Delhi arbeiteten. Ich bewunderte die Bilder an den Wänden und sah Fotos prominenter Besucher dieser Lehmhütte, unter ihnen Ex-Präsident Simon Peres und den Dalai Lama. Vergilbte Fotografien aus vergangenen Zeiten mit Bar Mitzwot Feiern und Hochzeiten der ehemals wichtigen und einflussreichen Mitglieder der Gemeinde, die fast alle nach Israel ausgewandert waren. Der Rabbiner erzählte von einem Alltag der Gemeinde, der sicherlich all den strengen Regeln der orthodoxen Juden widersprochen hätte, bis zu der Auffüllung des erforderlichen Minyan mit indischen Gartenarbeitern ­– den zehn Männern, die an einem Gebet teilnehmen müssen.

Dann bat uns der der Rabbiner, einen Kreis zu bilden. Es gab keinen Tisch, um den wir uns setzen konnten, und er verteilte die Haggada in englischer Sprache, die am Seder-Abend gelesen wird. Jeder von uns las ein paar Sätze, einer nach dem anderen, immer wieder dem Kreis folgend, und der Rabbiner unterbrach manchmal mit Erzählungen aus der Geschichte der Gemeinde und verwies stolz auf prominente Besucher, mit denen er hier Pessach gefeiert hatte. 

Zwei Franzosen unter den Teilnehmen konnten kaum englisch und stotterten beim Lesen des Textes, bis sie kleine Bücher aus ihren Taschen holten mit der Haggada auf französisch und einfach in ihrer Sprache lasen. Drei Touristen aus den USA, die offensichtlich die Religion weitaus ernster nahmen als die meisten anderen, weigerten sich den Text auf englisch zu lesen und sagten die Sätze, wenn sie an der Reihe waren, auswendig auf Hebräisch. Sie wollten nicht einmal das Buch, das der Rabbiner ihnen anbot. Es kam zu den vier wichtigen Fragen des Seder-Abends, und einer der Buben einer indischen Familie las sie vor, versprach sich mindestens zweimal, las die dritte Frage zuerst und die zweite zuletzt vor lauter Nervosität, bis alle lachen mussten, und aus der Runde von religiösen Widersprüchen, unterschiedlicher Herkunft und Sprache eine fröhliche Gruppe wurde, die froh war, nicht alleine in der Fremde feiern zu müssen.

Es näherte sich der feierliche Augenblick, für den der Rabbiner angekündigt hatte, dass er Matzes verteilen würde, und er betonte mehrere Male, dass jeder nur so viel nehmen sollte, dass alle Angehörigen zuhause wenigstens ein oder zwei Stücke zur Verfügung hätten. Er bat einen der Inder, der offensichtlich dort arbeitete und während unserer Feier in einer Ecke auf dem Boden saß, das Packet mit dem Brot zu holen. Der Inder verließ die Synagoge, und wir warteten gespannt. Doch er kam nicht zurück. Der Rabbiner wurde nervös, öffnete die Tür und rief etwas, das wir nicht verstehen konnten, doch niemand erschien mit einem Paket, und wir hörten auch nichts aus dem Garten. Ich fragte den Rabbiner, wo denn das Matzes sei, und einer der Amerikaner gesellte sich zu mir, und wir boten dem Rabbiner an, es selbst zu holen. Wir gingen durch den Garten zu einer kleinen Hütte, der Rabbiner öffnete das Vorhangschloss und wirklich, vor uns lag ein großer Karton, rund und etwa einen Meter hoch. 

Der Amerikaner, bärtig und kräftig, nahm den Karton alleine mit seinen Armen und trug ihn zurück in die Synagoge. Da stand er nun in der Mitte des Kreises und wir starrten alle auf die Schachtel und die Kinder fragten ihre Eltern, was denn drinnen sei. »Eine Überraschung«, sagte eine der Mütter und die Kleinen tanzten vor Aufregung um den Karton herum.

»Hat jemand ein Messer?« Fragte der Rabbiner, und es war wieder der Amerikaner, der ihm ein Taschenmesser reichte. Der Rabbiner schnitt langsam den Klebestreifen auf, mit dem der runde Deckel verklebt war, riss ihn runter und blickte in den Karton hinein, hob seinen Kopf und sah uns an, jeden einzelnen, langsam sich im Kreis drehend.

»Es tut mir leid«, stammelte er plötzlich, und wir alle erschraken und glaubten einen Moment lang, etwas Furchtbares sei geschehen. Bis eines der Kinder zu dem Karton ging, hineinblickte und sagte: »Der ist ja leer!«

Wir gingen jetzt alle vor, drängten uns um den Behälter – bis auf ein paar Brösel am Boden war er leer. Einer der Franzosen drehte ihn um und erklärte, der Karton sei von unten aufgemacht und dann wieder verklebt worden.

Niemand sagte etwas, schweigend wichen wir langsam zurück und formten plötzlich wieder einen Kreis rund um den leeren Karton, bis die Kinder plötzlich zu lachen begannen, was erlösend und befreiend von den Erwachsenen aufgenommen wurde. 

»Wir haben damit ein paar Familien, die vielleicht heute gehungert hätten, ein Geschenk gemacht. Jetzt haben sie alle das indische Pessach kennengelernt«, sagte der Rabbiner und jeder in der Gruppe lachte, sogar die drei streng gläubigen Amerikaner. 

Zurück in der Wohnung aßen wir Chicken-Curry und Palak Paneer, ein Spinatgericht mit Käsestücken, das uns der Koch zubereitet hatte, und trotz allem Flehen, er solle sich mit den Gewürzen zurückhalten, war es wieder derart scharf, dass ich es nur mit Reis, ein paar Stücken Naan, dem indischen Brot, und Jogurt essen konnte. Wir hatten damals alles falsch gemacht an diesem Seder-Abend, aber ich erinnere mich bis heute gerne an ihn zurück.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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