OPA, ENKEL, BOOT

O

Der alte Mann und der See

Am Millstätter See an einem sonnigen Nachmittag geht ein etwa sechzigjähriger Mann mit einem zehnjährigen Buben zum Bootsverleih, der gleich neben dem Hotel liegt. Beide mieten ein flaches, matratzenförmiges Boot, das wie ein Teller auf dem Wasser liegt, und das man stehend mit einem Ruder fortbewegen kann.

Der Bootsverleiher, ein Mann mit einem starken slawischen Akzent, grauen Bartstoppeln, braungebranntem Oberkörper und einer schmutzigen, kurzen Hose, schüttelt den Kopf als er sich den Wunsch des älteren Herrn anhört und wirft zögernd ein: »Nicht einfach, dieses Boot.«

Der Grauhaarige reagiert empört, schon fast beleidigt, und erklärt dem Verleiher, er habe jahrelange Erfahrung mit Booten, Wasserschi und sonstigen schwimmenden Geräten, und er solle sich keine Sorgen machen.

Doch der graubärtige Mann mit dem slawischen Akzent macht sich Sorgen und sagt während er den beiden die Ruder reicht: »Abholen in Wasser kosten fünfzig Euro.«

Jetzt wird plötzlich der Jüngere nervös und sagt: »Opa, wir können ja ein Ruderboot nehmen und gemeinsam rudern!«

»Das wäre ja noch schöner«, antwortet der Ältere und der Bootsverleiher schiebt die beiden Flöße ins Wasser. 

Ich sitze auf der Terrasse des Hotels mit Zeitung, Kaffee und Torte, und vor mir beginnt ein Schauspiel der Generationen. Beide, der Ältere und Jüngere, haben die Stehboote, oder wie immer man diese Dinger bezeichnet, von Ufer schwimmend weggestoßen, der Enkel kletterte auf sein Boot und begann zu rudern. Mit einer einzigen Bewegung gelang es dem Enkel aus dem Wasser auf das Boot zu steigen, er stand aufrecht mit dem Ruder in der Hand, und es ging los.

Der Großvater versuchte sich ebenfalls auf das flache Boot zu ziehen, stemmte sich hoch, rutschte immer wieder ab und tauchte unter, bis er für ein paar Sekunden völlig verschwand und auf der anderen Seite des Bootes keuchend auftauchte und sich eine Zeitlang einfach nur festhielt. 

»Opa, du musst versuchen, flach auf dem Boot zu liegen und dann langsam aufstehen«, rief ihm der Enkel zu, der inzwischen weiter draußen auf dem See war. 

Der Ratschlag war gut. Opa zog sich langsam auf das Boot, bis er mit dem ganzen Oberkörper auf dem flachen Plastik lag, das das Boot bedeckte, und schob langsam und vorsichtig ein Bein nach, dann das zweite, bis er tatsächlich auf dem Bauch auf dem Boot lag.

Der Enkel schrie »Hurrah« und »Bravo Opa«, und da er sich nun sicher war, dass Opa ihm bald folgen würde, ruderte er noch schneller auf seinem Boot stehend in Richtung Mitte des Sees.

Opa überlegte inzwischen, was sein nächster Schritt sein könnte, lag immer noch flach auf dem Boot, als er den Mann am Ufer rufen hörte »Knie! Knie!« und ging davon aus, dass er nun sich langsam aufknien sollte. Und es gelang ihm auch. Der Enkel wurde allerdings immer kleiner in der Ferne und drehte sich auch nicht mehr um.

Kniend auf dem Boot mit dem Ruder zwischen den Beinen eingeklemmt, kam es zu der letzten und entscheidenden Bewegung, dem Aufstehen, um dann dem Enkel zu folgen. Opa hob ein Bein und sein Fuß stand flach auf dem Boden, stützte sich mit dem Ruder auf, stemmte sich hoch und stand auch mit dem zweiten Bein. Er lächelte und drehte sich um, um dem zweifelnden Verleiher am Ufer zuzuwinken, mit der vollen Überzeugung, diesem nun bewiesen zu haben, dass er vielleicht schon graue Haare, einen über die Badehose hängenden Bauch und leichten Brustansatz habe, aber immer noch fit genug sei, ein derart absurdes Wassergefährt zu bedienen.

Ich dachte mir, das Schauspiel sei zu Ende, und ich könne nun in Ruhe meine Zeitung lesen, als der zum Ufer voller Selbstsicherheit winkende Opa durch die Drehung und die Bewegung des Armes die Balance verlor, sich heftig bewegte, den Oberkörper nach links und rechts drehte, dadurch das Boot zu Schaukeln begann, mit beiden Armen versuchte, das Gleichgewicht zu retten indem er sie hoch warf und dann wieder zur Seite, doch es half alles nichts; der Opa fiel ins Wasser und mit ihm das Ruder. 

Als er auftauchte, war das Boot etwa zehn Meter weit weg von ihm, und das Ruder fünf Meter in einer anderen Richtung. Der Mann am Ufer schrie etwas von Ruder nicht verlieren, so beschloss Opa zuerst zum Ruder zu schwimmen und dann das Boot zu holen. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und trieb Boot und Ruder immer weiter von Opa weg in Richtung Mitte des Sees. Doch Opa gab nicht auf. Er schwamm zum Ruder und erreichte es auch, doch das Boot war inzwischen noch weiter weg, sodass Opa mit dem Ruder schwimmend trotz aller Anstrengungen dem Boot nicht näherkam.

Ich beobachtete den älteren Mann, und er tat mir plötzlich leid. Alles was er wollte, war etwas mit seinem Enkel zu erleben, der inzwischen ohne ihn weit weg vom Ufer ruderte, und sich um den verzweifelt schwimmenden Opa nicht kümmerte. Inzwischen hatte der Bootsverleiher ein Motorboot gestartet, das am Ufer angebunden im Wasser lag, und fuhr langsam auf den Opa und das allein schwimmende Boot zu, zog den Mann aus dem Wasser und befestigte das Boot mit einer Schnur an das Motorboot. Dann fuhren sie zurück zum Ufer.

Opa stieg langsam aus dem Wasser, er schien völlig erschöpft zu sein, der Bootsverleiher wollte ihm helfen, doch er stieß ihn weg, ging zum Ufer und setzte sich ins Gras. Inzwischen war auch der Enkel zurückgekommen, glitt langsam, auf seinem Boot stehend, gegen das Ufer, bis er im seichten Wasser herunterstieg und das Floß aus dem Wasser zog. Jede Bewegung gleichmäßig, ruhig, elegant und ohne Unterbrechungen, als würde er seit Jahren jeden Tag mit diesem Boot auf den See fahren. 

»Opa, was ist passiert?« Fragte er.

»Nichts«, antwortete der alte Mann, saß immer noch im Gras mit den Knien hochgezogen und mit beiden Armen sich abstützend. 

Der Bootsverleiher verstaute die beiden Boote und die Ruder und kam zurück, um die fünfzig Euro für die Rettung im See einzukassieren. Opa zahlte, ohne zu widersprechen.

Dann sagte der graubärtige Verleiher mit seinem schrecklichen Akzent plötzlich: »Bub gleich wissen, hat gesagt, Ruderboot nehmen!« Und lachte.

»Ach, lasst mich doch alle in Ruhe«, knurrte Opa vor sich hin. Doch der Enkel wollte den Tag nicht so enden lassen und bettelte den Opa an, doch mit ihm noch einmal mit dem Ruderboot hinauszufahren.

Ich saß zu weit weg, um jedes Wort zu verstehen, sah jedoch, dass der Opa sich abtrocknete und mit seinem Enkel in ein Ruderboot stieg. Die beiden saßen nebeneinander und ruderten in wunderbarem Rhythmus weit hinaus auf den See, wo der Enkel ein paar Mal ins Wasser sprang und ihn Opa wieder ins Boot zog. 

Ich las nun meine Zeitung, bestellte eine frische Tasse Kaffee, da er kalt geworden war, und war zufrieden mit der Welt. Auch mir hatte der Enkel den Tag gerettet.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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