GEDANKEN ZUM 20. JULI 1944

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Photo: Prozess zum 20. Juli 1944 (cropped), CC BY-SA 3.0

Revolutionsloses Deutschland

Die Einzelheiten des Ereignisses sind genau dokumentiert. Am 20 Juli 1944 stellte Claus Schenk Graf von Stauffenberg zwei Koffer mit Sprengsätzen unter den Kartentisch, auf dem Hitler die Positionen der Deutschen Armee studierte. Er wurde nur leicht verletzt. Der Verantwortliche für den Anschlag wurde noch in derselben Nacht erschossen. Unter den mehr als 200 Personen, die in den Monaten danach hingerichtet wurden, waren 19 Generäle, 26 Oberste, 2 Botschafter, 7 Diplomaten, ein Minister, drei Staatssekretäre, der Chef des Reichskriminalpolizeiamts und mehrere Polizeipräsidenten und Regierungspräsidenten.

Bis heute wird in Deutschland über die Bedeutung des Anschlags geforscht und publiziert, und ein neues Buch der Enkelin von Stauffenberg, Sophie von Berchtolsheim, unter dem Titel »Mein Großvater war kein Attentäter«, zeigt selbst die sprachliche Verwirrung um diese wichtige Tat des Deutschen Widerstands.

Immer wieder werden die Motivation und der Zeitpunkt des Anschlags diskutiert, analysiert und teilweise zerredet. Man versucht in den Biographien der Verantwortlichen Hinweise auf »faschistoides« Gedankengut zu entdecken, um den Mythos des Heldentums zu relativieren und zum Beispiel unter ihnen Antisemiten und Kriegstreiber zu entdecken. Auch in einem der Briefe von Stauffenberg fanden sich antisemitische Aussagen.

Waren es Demokraten, die Hitlers Diktatur beenden wollten, oder überzeugte Nationalsozialisten, die fürchteten, dass unter Hitler der Krieg bereits verloren sei? Waren es Antisemiten, denen der Holocaust zu weit ging, oder Generäle, die nach den schweren Niederlagen in der Sowjetunion, dem Rückzug der Wehrmacht und Vormarsch der Rote Armee ein kommunistisches Deutschland fürchteten?

Während über die Verantwortlichen bis in ihre Kindheit geforscht wird, Dutzende Bücher mit widersprüchlichen Erkenntnissen über sie erscheinen, sie für die einen Helden und für andere immer noch Verräter sind, bleiben Forschungen, Dokumentationen und Biographien der zu »Befreienden« eher im Hintergrund. Gedanken über Widerstand gab es in den verschiedensten Gruppen. In katholischen Kreisen, dem Adel, in der Armee, im politischen Widerstand, vor allem in den kommunistischen Gruppen und auch vereinzelt im organisierten jüdischen Widerstand. Sie alle scheiterten. Das »Warum« sollte die eigentliche Frage der Forschung sein.

Warum fürchteten selbst die Widerstands-Gruppen im Militär, die schon 1936 über einen Staatsstreich diskutierten, einen Anschlag auf Hitler? Auf der Grundlage der überlieferten Dokumente gibt es eine einfache Antwort: Das Volk hätte sich gegen die Aufständischen, gegen die Attentäter gestellt. Eine Unterstützung, ein Aufstand oder eine Revolution waren nicht zu erwarten, und das wussten die Gegner des Regimes.

Kaum eine Diktatur in der Geschichte der Menschheit konnte sich der Unterstützung der Bevölkerung so sicher sein wie die NS-Führung. Die jubelnden Massen waren kein inszeniertes Schauspiel, sondern Ausdruck wahrer Begeisterung. Die letzte Ausgabe der Zeitschrift »Die Zeit« zeigt ein Foto aus dem Jahr 1936. Im Hamburger Hafen wird das Segelschiff »Horst Wessel« verabschiedet, und eine unübersehbare Menschenmenge grüßt das Spektakel mit dem Hitler-Gruß. Die Redaktion machte sich offensichtlich die Mühe, jeden einzelnen Arbeiter genau zu untersuchen, der auf dem Bild den rechten Arm gehoben hatte, und tatsächlich fanden sie einen einzigen, der mit verschränkten Armen dastand. Einen einzigen…

Revolutionen, Aufstände und Umstürze können durch einzelne »Helden« nur initiiert, begonnen werden. Wenn das Volk keinen Grund für Veränderungen sieht und die bestehenden Machtverhältnisse unterstützt, sind Heldentaten dieser Art wenig erfolgreich. Bemühungen chinesischer Dissidenten gegen die kommunistische Diktatur werden von der Bevölkerung ignoriert, ebenso die Aktivitäten der Opposition in Singapur.

Deutschland unter Hitler war zufrieden mit sich selbst. Den Juden hatte man Hab und Gut geraubt, Kriminelle verschwanden in Gefängnissen und Konzentrationslagern, Behinderte störten im Alltag nicht mehr, Arbeitslosigkeit verschwand, und die Erfolge des Blitzkriegs gegen Polen, die Besetzung Österreichs und der schnelle Vormarsch an der West-Front begeisterte die meisten Deutschen. Ein »revolutionsloses« Volk konnte durch Revolutionäre nicht mitgerissen werden. Die große Mehrheit der Deutschen reagierte mit Wut und Verachtung gegen die Attentäter des 20. Juli. Der Unrechts-Staat stabilisierte sich nur zum Teil über eine diktatorische Führung, mehr noch durch die Begeisterung und den blinden Gehorsam der Bevölkerung.

Daher verdienen die Versuche des Widerstands, egal von welchen Seiten er kam, unseren Respekt. Die Verantwortlichen wussten, dass sie keine Unterstützung in der Bevölkerung erwarten konnten und haben es dennoch versucht, aus Überzeugung und mit der Hoffnung, die politischen Verhältnisse zu ändern. 

Perfekt – im Sinne der heutigen Demokratie-Vorstellungen – waren sie alle nicht. Der Adel träumte von einer neuen Monarchie, die Generäle von erfolgreichen Feldzügen, die Kommunisten von einer anderen Form der Diktatur und die Katholiken von einem waffenfreien, friedliebenden Deutschland. Doch wer gibt uns das Recht, diese Menschen, ihre Ideen und Motivation, ihren Mut und ihre Verzweiflung zu bewerten und zu beurteilen, sie einzuteilen in »anständige« und »unanständige« Widerstandskämpfer, wie es einst die DDR tat, die den Widerstand auf die Kommunisten reduzierte. 

Heute, in der Demokratie lebend, mit Rechten und Schutz bei jeder Form von Protest, die wir äußern, ob verbal oder als Demonstrant auf der Straße, sollten wir uns verneigen vor Menschen, die Vergleichbares im Bewusstsein wagten, ihr Leben zu gefährden und wahrscheinlich auch das ihrer Familien. 

Die Erinnerung an Widerstand ist notwendig und eine Form der demokratiepolitischen Verantwortung mit einer wichtigen Einschränkung: Ohne Vergleiche – mit sich und anderen Personen der Jetzt-Zeit. Wer den grausamen Tod der Widerstandskämpfer benutzt, um sich und seine/ihre Helden ins rechte Licht zu rücken, benutzt die Opfer in einer schäbigen Art und Weise.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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