Nr. 71, aber nicht scharf, bitte!

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Komplikationen beim Lieferservice des China-Restaurants

»Ja, Hallo, hier ist Happy Dim Sum, was bestellen bitte?«

Die fünfzehnjährige Klara stößt ihren jüngeren Bruder David mit dem Ellenbogen, als sie die Stimme hört, und beide versuchen, das Lachen zu unterdrücken. Sie sitzen zu viert um den Esstisch in der Küche, auf dem das Telefon liegt und auf Lautsprecher umgeschaltet ist.

Susanne wirft ihren Kindern einen warnenden Blick zu und legt den Finger auf die Lippen.

»Ja, Hallo, können sie mich verstehen!« Karl beugt sich vor und spricht so laut ins Telefon, dass Susanne und die Kinder erschrocken vom Tisch wegrücken.

»Jetzt schrei doch nicht so«, sagt Susanne. 

»Ich weiß doch nicht, ob die mich hört«, reagiert Karl beleidigt.

»Gut verstehen, alles gut«, sagte die Stimme am anderen Ende, und die beiden Kinder beginnen wieder zu kichern.

Alle vier haben eine ausgedruckte Speisekarte des Restaurants vor sich und die Speisen angekreuzt, die sie bestellen wollen.

»David, fang du doch an«, sagte Susanne.

»Hallo, bitte einmal die Teigtaschen als Vorspeise…«

»Bitte nur Nummer sagen, sonst immer Fehler«, unterbrach die chinesische Stimme des Restaurants.

»Gut, also dann Nummer 5 von den Vorspeisen…«

»Die sind doch ohne Fleisch, die schmecken nach gar nichts, Nummer 6 bitte«, korrigiert Klara vorgebeugt ihren Bruder.

»Nummer 6 sind gedämpft, ich will aber die gebratenen!« David drängte seine Schwester zur Seite und sagt laut und langsam: »Nummer 7 bitte!«

»Gut«, sagte die Stimme und fährt fort: »Einmal Nummer 5, einmal 6, einmal 7!«

Während Susanne langsam erklärend versucht die Bestellung zu ändern, sind Klara und David aufgesprungen und gehen lachend in der Küche auf und ab, machen einen derartigen Lärm, dass die Frau im Restaurant nichts versteht und Karl laut ins Telefon schreit: »Ist gut, alles OK, wir nehmen 5, 6 und 7!« Und zu den anderen: »Verdammt noch einmal, dann esse halt ich die 5 und die 6!«

Klara und David setzen sich wieder.

»Bestell doch endlich deine Vorspeise, damit wir hier weiterkommen«, sagt Karl zu seiner Frau ungeduldig, die mit dem Sessel vom Tisch wegrückt und sagt: »Ich brauch das alles nicht, wenn hier nur gestritten wird. Ich kann mir auch einen Salat machen.«

»Jetzt sei doch nicht so, Mama«, versucht Klara sie zu beruhigen und liest ihr die Vorspeisen vor. »Du hast doch immer gerne die Frühlingsrollen, Nummer 9, nimm doch die Nummer 9!« Und ohne auf die Antwort der Mutter zu warten, sagt sie laut ins Telefon: »Nummer 9 auch noch!«

»Ich will kein Fleisch, lieber die mit Krabben«, sagt Susanne.

»Dann 5,6,7 und 9?« Fragt die Frau mit dem chinesischen Akzent.

»Nein!« Antworten alle gleichzeitig und Klara sagt: »Nicht 9, Nummer 8, die mit Krabben! Und jetzt zu den Hauptspeisen, einmal 71, aber bitte nicht scharf«, sie spricht wieder langsam, jedes Wort betonend als wäre sie eine Touristin in einer Busstation in Südindien, die nach der Toilette fragt.

»71 hat doch diesen roten Paprika als Warnung, natürlich ist das scharf, warum nimmst du nicht etwas anderes«, sagt Karl.

»Warum können die nicht einfach das scharfe Chilli weglassen, ich will das Rindfleisch mit Nudeln und Gemüse, aber eben nicht scharf«, reagiert Klara trotzig. 

»Ja bitte? einmal 71?« Meldet sich die deutsch-chinesische Stimme.

»Einen Moment noch!« Susanne sucht auf der Speisekarte und sagt zu Klara: »Hier bei den Nudelgerichten, Nummer 92, ist das gleiche, nur ohne Paprika-Warnung.«

»Das hat aber Zwiebel, ich mag keine Zwiebel!«

»Dann bestell doch die 91, die ist ohne Zwiebel«, sagt David.

»Und was soll jetzt der Unterschied sein, 71 nicht scharf oder 92, verdammt noch einmal, es ist 92 und nicht 91, und das ohne Zwiebel!« Klara wird lauter und lauter.

»Hauptspeise jetzt 71, 91 und 92, stimmt so?« Fragt die Stimme aus dem Restaurant.

»Nein!« Rufen wieder alle gleichzeitig.

»Wir haben ja noch den Tiefkühlfisch, vielleicht essen wir den«, sagt Karl.

»Welche Nummer Fisch, bitte?« Hören sie die Stimme am Telefon.

Klara und David können sich kaum mehr beruhigen, und auch Susanne fängt jetzt an zu lachen.

»Moment noch, keinen Fisch!« Sagt Susanne, blickt kurz auf die Speisekarte und bestellt dann die Nummer 58.

»David, du bist dran, und Papa, du hast auch noch nichts«, sagt Klara.

Karl schaut unwillig auf die Speisekarte und murmelt vor sich hin: »Ich brauch das alles nicht, schmeckt doch immer gleich, egal, was man bestellt«.

»Nimm doch die Ente«, sagt Susanne.

»Also gut, einmal 64, aber mit der dunklen Soß und Palatschinken«.

»Das ist 61, Peking Ente, das ist mit Soß und Omeletten. 64 ist knusprige Ente«, korrigiert ihn die Stimme.

»Ja, meinetwegen, ist doch ganz egal, dann 61!«

»Jetzt sei doch nicht so unfreundlich, die kann doch nichts dafür, dass du kein Chinesisch magst«, sagt Susanne.

»Was hat das mit Chinesisch zu tun? In Hong Kong, weißt du noch…«

»David, was willst du?« Unterbricht ihn Susanne und Karl steht auf, geht zum Kühlschrank und nimmt eine Flasche Bier heraus.

»Süßsauer natürlich, der nimmt doch immer das gleiche«, sagt Klara, bevor David noch zu Wort kommt.

»Ich nehme 39, aber bitte viel Soß, extra Soß!« Sagt David laut und langsam.

»39 schon aus«, sagt die Stimme.

»39 schon aus, was? Süßsaures Fleisch gibt’s doch immer!« Sagt David.

»39 nicht süßsauer, 39 Lamm, heute schon aus, 38 ist süßsauer!« 

»Kannst du nicht lesen!« Faucht ihn Klara an.

»Jetzt lass mich doch, na gut, dann ganz was anderes, ich nehme 41, nicht 38!«

»Was ist 41?« Fragt Klara, und David antwortet: »Mongolisches Rindfleisch.«

»Und was ist Mongolisches Rindfleisch?« Fragt Klara. »Keine Ahnung,« antwortet David und sie lachen beide, bis Susanne sie unterbricht: »Jetzt hört doch auf, die Frau wird sich nicht auskennen, ihr bringt sie noch ganz durcheinander.«

»Ich sag ja, nehmen wir den Fisch aus dem Tiefkühlfach,« Klaus hat sich wieder dazugesetzt und trinkt immer wieder aus der Bierflasche.

»Hallo, sind sie noch da?« Fragt die Stimme im Telefon.

»Ja, alles in Ordnung, ich nehm’ noch eine Suppe, die pikant-scharfe Suppe«, sagt Susanne.

»Welche Nummer, bitte?«

»Ach ja, die Nummer, kann mir einer helfen, welche Nummer das ist?«

Sie suchen auf der Speisekarte. »Acht!« Ruft David und Susanne spricht ins Telefon bis die Frau im Restaurant es wiederholt.

»Also, haben wir jetzt genug?« Fragt Susanne.

»Was ist mit einer Nachspeise«, sagt David. »Nachspeise…«, sagt Klara verächtlich, »was haben die schon für Nachspeisen?«

»Haben sie auch Nachspeisen, also etwas Süßes?« Fragt Susanne, wieder lauter werdend.

»Welche Nummer bitte?« Reagiert die Stimme.

»Das hat doch keinen Sinn…« sagt Karl, doch David deutet auf die Speisekarte: »Hier, ganz hinten, dort sind die Süßspeisen, ich will ‚Long En‘!«

»Was ist das wieder?« Fragt Karl und David sagt lachend: »Drachenauge Kompott!« Jetzt können sich alle vier nicht mehr beruhigen und als die Stimme am Telefon auch noch sagt: »Drachenaugen Kompott schon aus, leider.« Verschluckt sich Karl mit dem Bier vor lauter Lachen.

»Lychee Kompott noch da, nehmen sie Nummer 102«.

»Gut, einmal 102, die anderen Nachspeisen sind 104, gebackene Äpfel und 105, gebackene Bananen!« Sagt Susanne laut und zu den anderen leise flüsternd: »Jetzt hören wir aber auf, wir haben schon zu viel bestellt«. Die Frau im Restaurant wiederholt eine lange Liste von Nummern, doch niemand hört zu und Karl erklärt ihr die Adresse.

Zwanzig Minuten später läutet es an der Tür und die Lieferung wird in zwei großen Plastiksäcken abgegeben. Susanne packt alles aus und verteilt es auf dem Esstisch. Sie stürzen sich auf das Essen in den Plastikschalen, die in der Mitte des Tisches stehen und kosten kreuz und quer wie bei einer traditionellen, chinesischen Mahlzeit von allem, mischen es mit Reis und in zehn Minuten ist alles aufgegessen, als es wieder an der Tür läutet.

Susanne öffnet die Tür. Es ist derselbe Mann, der ihnen das Essen geliefert hatte.

»Entschuldigen«, sagt er stammelnd, »falsche Lieferung«. Und reicht Susanne zwei Plastiksäcke. 

»Das ist ihr Essen, andere war auch für Tür Nummer 12, aber im Nebenhaus.«  

Zuerst erschienen in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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