Israel, der Impfweltmeister

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Die Armee organisiert die Versorgung 

Am frühen Abend in Tel Aviv. Die Sonne verschwindet langsam im Meer und lässt die Gesichter der Wartenden vor den Impfstationen immer dunkler und röter werden. Es ist Jänner, und der Winter hat in diesem Jahr keine Eile. Die Temperaturen steigen immer noch über die zwanzig Grad während des Tages, und die Strände sind voll mit Läufern, Turnern und all jenen, die einfach nur Spazieren gehen.

Die letzten vor den Zelten und Impfstationen, die über die ganze Stadt verteilt sind, wurden bereits versorgt, als einer der Ärzte den Soldaten, die in weißen Kitteln für Ordnung sorgen, zuruft: »Wir haben noch drei Ampullen offen mit neun Impfungen.« Das ist der Zeitpunkt kurz vor Schließung der Zentren, wenn alle mit Terminen für diesen Tag bereits geimpft sind und anderen, die zufällig vorbeikommen, die Impfung angeboten wird. 

»He, Pizza-Boy!« Ruft ein Soldat einem Mopedfahrer zu, der im gegenüberliegenden Haus eine Pizza zugestellt hatte. »Bist du schon geimpft?« Er schüttelt verneinend den Kopf, und der Soldat winkt ihm zu, zum Zelteingang zu gehen und in wenigen Minuten hat er eine der übrig gebliebenen Impfungen bekommen. Ein Taxifahrer wird angehalten, eine Frau, die ihren Hund ausführt und ein junges Mädchen, das ihre Großmutter bringt, den Termin verwechselte und gleich mit der Oma geimpft wird. Nach einer halben Stunde sind die übrig gebliebenen Impfungen verteilt, wahllos, ohne Verständigung und Anmeldung, um sie nicht verkommen zu lassen.

Israel, mit einer Bevölkerung wie Österreich jedoch nur einem Viertel der Fläche, hat bis letzte Woche bereits über eine Million geimpft, noch im Jänner werden es mehr als zwei Millionen sein und bis März – so ist der Plan – sollten alle bereits mit der zweiten Impfung erreicht worden sein. Österreich, so liest es sich auf der Info-Seite des Gesundheitsministerium wird im März bei der Gruppe der 65- bis 70-Jährigen mit der Erstimpfung sein. Bleiben etwa 80 Prozent der Bevölkerung, die dann immer noch nicht geimpft sind.

Zur Chefsache erklärt

Von Anfang an erklärte Premierminister Netanyahu die Versorgung mit Impfstoffen zur ›Chefsache‹ und, dass er sich mit seinem Stab persönlich darum kümmern werde. Mit den beiden Herstellern Pfizer und Moderna wurden sehr früh Lieferverträge vereinbart zu wesentlich höheren Preisen als die EU zahlt. Netanyahus Argument – jede Woche Lockdown sei teurer als der überhöhte Preis. 

Kritiker meinen, es wäre eine Show des Premiers angesichts der Wahlen im Frühjahr, doch selbst seine Gegner finden anerkennende Worte für die perfekte Organisation. Netanyahu ließ sich nicht nur als erster impfen, sondern versprach, dass Israel als erstes Land der Welt in wenigen Monaten komplett durchgeimpft sein werde. 

Wenige Tage nach seiner Impfung besuchte er ein Impfzentrum in Tira, einer Stadt mit einem großen Anteil arabischer Israelis, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Vertreter der arabischen Minderheit klagten über Schwierigkeiten, die auf Mis-Informationen aus arabischen Ländern zurückzuführen seien, die vor den Impfungen der israelischen Regierung gewarnt hätten. Samir Subhi, der Bürgermeister einer mehrheitlich arabischen Stadt erklärte in einem Interview, er habe bei 25.000 Bewohnern eine ›Voice-Mail‹ hinterlassen, in der er erklärte, es sei eine ›heilige Pflicht‹, sich impfen zu lassen.

Ähnliche Vorbehalte existieren innerhalb der orthodox jüdischen Bevölkerung, in der manche die Infektion als ›gottgegeben‹ einfach hinnehmen.  Auch hier bekam die Regierung Unterstützung von ultra-orthodoxen Rabbinern, die Mitglieder ihrer Gemeinden aufforderten, zu den Impf-Zentren zu gehen und sich fotografieren ließen, als sie selbst geimpft wurden.

Die Impf-Zentren hat die Armee vorbereitet, von einem einfachen Krankenwagen in einem Dorf im Norden des Landes bis zu ›Drive-In‹ Impfstraßen in den Großstädten, wo Tausende jeden Tag geimpft werden. Der Parkplatz des Basketballstadions von Hapoel Tel Aviv wurde genau so umgebaut wie ein Einkaufszentrum und ein Kinosaal. Die Armee stellte zusätzliches medizinisches Personal zur Verfügung, holte Freiwillige aus der Reserve und übernahm die organisatorische Betreuung der Zentren. 

Nun ist die Rolle der Armee in Israel nicht mit Armeen anderer Länder vergleichbar. Bei der ständigen Bedrohung durch ihre Nachbarländer ist sie keine für den Notfall vorbereitete Organisation, sondern Teil des Alltags der israelischen Gesellschaft. Frauen und Männer leisten Wehrdienst und haben Waffen mit Munition zu Hause gelagert. Sie ist die besttrainierte und bestorganisierte Armee der Welt mit eigenen Krankenhäusern, Versorgungsstrukturen, Fachleuten aus allen möglichen Bereichen, und ist derartig eng mit der Zivil-Bevölkerung vernetzt, dass auf eine Gefahr innerhalb kürzester Zeit mit einer Mobilmachung reagiert werden könnte. 

Ein Großteil der elektronischen Entwicklungen, die Israel zu einer der wichtigsten High-Tech Nationen machten, kommen aus den Forschungszentren der Armee. Heute würde kein Mobiltelefon, kein Computer und viele Methoden der modernen Medizin ohne die Entwicklungen funktionieren, die ursprünglich aus der israelischen Armee kamen. Andere Erfindungen wie die Tröpfchen-Bewässerung, die weltweit in der Landwirtschaft bei geringer Wasserversorgung eingesetzt wird, und moderne Meerwasser-Entsalzungsanlagen, die Israel eine unabhängige Trinkwasserversorgung garantieren, sind Folgen geographischer und klimatischer Bedingungen, die eine Problemlösung notwendig machten. 

150.000 Impfungen pro Tag

Entsprechend fortgeschritten ist auch die elektronische Datenaufarbeitung durch die Krankenkassen. Jeder Israeli muss bei einer der vier Krankenversicherungen gemeldet sein. Keine Internet Seite ist notwendig, keine Telefonnummer, bei der sich Impfwillige anmelden und auf ihre Zuteilung warten. Über die Daten der Krankenkassen wird die Bevölkerung per SMS verständigt, wer wann und wo an der Reihe ist. Man meldet sich bei der Impf-Station mit der Chip-Karte an, und ein Rechner druckt den Termin für die zweite Impfung aus. 150.000 Impfungen werden täglich in Israel verabreicht. Im Vergleich dazu sind in Österreich etwa 20.000 pro Woche geplant. Die Mitarbeiter im Gesundheitssystem, Lehrer, Erzieher, das Personal der Altenheime, Polizisten, Soldaten, andere Gruppen mit einem hohen Risiko und Israelis über sechzig sollen bis Ende Jänner bereits die zweite Impfung bekommen.

Zu Israel teilen sich üblicherweise die Ansichten in extrem unterschiedliche Meinungen. Die einen bewundern das Land und die Bevölkerung, die aus einer Wüste innerhalb dreier Generationen ein blühendes Land aufgebaut hat. Andere verurteilen es wegen der Diskriminierung der Araber und Palästinenser und zweifeln an den demokratischen Strukturen. Kein Land, weder Nord-Korea, Venezuela oder der Iran werden von der UNO so oft verurteilt wie Israel. 

Relativ unbekümmert hat dieses kleine, von Feinden umgebene Land mit neun Millionen Israelis gegenüber mehr als 300 Millionen Arabern mit Kreativität und Organisationstalent ein Selbstbewusstsein entwickelt, das Bewundern oder Verteufeln auslöst, doch kaum jemanden gleichgültig lässt. 

Der eigenwillige und erfolgreiche Impfplan hat Reaktionen provoziert, in der Neid und Eifersucht mit Kritik überlagert wird, die eher verzweifelt klingt. So schrieb ein Kommentator in einer österreichischen Tageszeitung, dass nur eine autoritäre Regierung wie unter Netanyahu einen derartigen Impfplan durchsetzen konnte und ein Politiker in Deutschland sagte, ein Impfplan wie in Israel sei in Deutschland nicht möglich, man sei ja immer noch ein ›Rechtsstaat‹. 

Das Versagen der EU-Länder wird mit pseudo-demokratischen Ausreden zugedeckt, als hätten ›rechtsstaatliche‹ Strukturen eine schnellere Versorgung verhindert. Die schwerfällige Brüsseler Bürokratie muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit dem Scheitern, einen zeitgerechten Impfplan zu garantieren, die Lockdown-Periode für die EU-Mitglieder bis weit in den Sommer hinein verlängert zu haben.

Zuerst veröffentlicht in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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