MEIN SOHN, DER DOKTOR

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Mütter und ihre Pläne für die Kinder

Im Stadtpark im Zentrum von Wien ist in der Mitte des Parks ein kleiner Teich mit Enten, die sich am Ufer tummeln und darauf warten, dass Mütter, die ihre Kleinen an der Hand halten, gemeinsam mit ihnen Brot ins Wasser werfen.

Sind das alte Brot und die harten Semmeln verteilt, suchen sie eine der Bänke, die im Schatten stehen, und setzen sich erschöpft, den Atem voller Selbstmitleid ausblasend, kramen aus einer Einkaufstasche ein paar kleine Autos und beobachten gelangweilt den Sohn, wie er sie hin und herschiebt, oder die Tochter wie sie in der Sandkiste einen Kübel nach dem anderen füllt und ihn wieder ausleert. Manchmal rettet sie eine andere Mutter oder eine allein herumwandernde Großmutter, die ebenfalls einen Platz unter einem Baum gesucht hat und bald ein Gespräch über die Kinder beginnt.

An einem dieser heißen Samstag Nachmittage saß eine Frau im Stadtpark mit blonden, glatten Haaren und trotz der Hitze einem dunklen Rock, der ihr bis zu den Schuhen reichte. Für jene, die diese Art der Kleidung kannten, bestand kein Zweifel, dass es eine jüdische Mutter war mit Perücke, Scheitel wie es die Juden nennen, und bedeckten Beinen. Eine andere Mutter näherte sich der schattigen Bank, setzte sich neben sie, in Shorts, einem T-Shirt und Flip-Flops. Ihr Sohn saß auf einem Dreirad

»Was für ein süßer Bub, der Kleine«, sagte T-Shirt-Mama, und Scheitel-Mama nickte dankbar lächelnd. »Wie heisst er denn?« 

»Yonah«.

»Ein schöner Name, kenn’ ich gar nicht.«

Scheitel-Mama erzählte ihr die Geschichte von Yonah und dem Walfisch aus dem Alten Testament, und T-Shirt-Mama hörte aufmerksam zu und schaute gleichzeitig auf ihren Franzi, der immer noch auf dem Dreirad saß und einen bunten Lutscher ableckte. Was wohl »Franzi« bedeuten könnte in diesem Alten Testament, dachte die Mutter im T-Shirt, traute sich jedoch nicht zu fragen.

»Mein Yonah wird einmal ein Doktor, ein Mediziner!« Sagte Scheitel-Mama stolz, und ihre Augen schienen dabei zu wachsen und sich in alle Richtungen auszudehnen.

»Das wissen sie jetzt schon? Der geht doch wahrscheinlich grad mal in den Kindergarten«, entgegnete ihr T-Shirt-Mama.

»Natürlich weiß ich das jetzt schon, mein Bruder ist Arzt, mein Vater, also wird mein Sohn auch einer. Unsere Familie ist zwar fromm, aber wir alle haben normale Berufe!« Reagierte die Mutter im langen Rock.

T-Shirt-Mama wusste einen Moment nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte viele Mütter mit Kindern wie ihrem Franzi, aber keine war sich jetzt schon sicher, dass ein kleiner Bub einmal Arzt, Bäcker, Schauspieler oder Politiker sein würde. Die meisten waren schon froh, wenn ihre Franzis und Annas während der Nacht nicht mehr ins Bett machten. Und was das mit Fromm-Sein zu tun haben könnte, war ihr schon gar nicht klar. Aber was soll’s, dachte sie, im Stadtpark hatte sie schon die kuriosesten Mütter getroffen, und nichts konnte sie mehr überraschen.

»Mein Bruder ist übrigens Ingenieur!« Sagte T-Shirt-Mama dann doch plötzlich und wartete, was die Mutter im langen Rock sagen würde. Doch Scheitel-Mama zeigte sich wenig beeindruckt und strich ihrem Yonah über den Kopf, der immer noch die Autos auf der Bank hin und her schob. 

T-Shirt-Mama wischte ihrem Franzi den Mund ab. Der bunte Speichel vom Lutscher tropfte auf sein Hemd. Dann drehte sie sich zu Scheitel-Mama und sagte:

»Und was ist, wenn ihr Yonah Tischler werden möchte. Was machen sie dann?«

Scheitel-Mama schüttelte den Kopf und erwiderte: 

»Natürlich kann er lernen, was ihn interessiert, aber Tischler kann ich mir nicht vorstellen. Der Yonah wird so wie alle in unserer Familie studieren.«

Doch T-Shirt-Mama ließ nicht locker und fragte:

»Wie können sie ihn zu etwas drängen, was er vielleicht gar nicht will. Dann ist er zwar Arzt, aber ein Leben lang unglücklich!«

»Unglücklich? Warum sollte er unglücklich sein als Arzt? Mein Vater und mein Bruder sind ja auch nicht unglücklich. Haben sie schon einmal einen unglücklichen Arzt getroffen? Wie kann einer Arzt sein und gleichzeitig unglücklich, das geht doch wohl nicht!« Scheitel-Mamas Stimme klang plötzlich etwas lauter und nervöser, und sie strich auch nicht mehr ihrem Yonah übers Haar.

»Ich werde jedenfalls meinem Sohn nicht versuchen einzureden, was er tun soll. Der muss seinen eigenen Weg finden, und ich werde ihn unterstützen, egal wofür er sich entscheidet, ob Tischler oder Arzt. Es geht doch schließlich um die Freiheit unserer Kinder!« T-Shirt-Mama klang jetzt ebenfalls aufgeregt, sie stand auf und nahm ihren Franzi bei der Hand als wolle sie gehen.

»Ja, ja die Freiheit…«, sagte Scheitel-Mama, und ihre Stimme wurde wieder leiser. Sie nahm eines der Autos von ihrem Yonah und starrte es an.

»Ist denn die Freiheit der Kinder nicht wichtig für sie?« Fragte T-Shirt-Mama.

»Natürlich ist sie wichtig«, antworte Scheitel-Mama, stellte das Auto zurück auf die Bank und sagte: »Aber Überleben ist wichtiger! Und als Arzt ist die Chance einfach größer, jeder braucht einmal einen Arzt, in jeder Situation.«

T-Shirt-Mama verstand jetzt gar nichts mehr. Ich rede von Freiheit und die da von Überleben, dachte sie, irgendwie würde das alles keinen Sinn ergeben und sie beschloss, mit ihrem Franzi eine andere Bank zu suchen und zog ihn einfach fort auf seinem Dreirad, ohne sich zu verabschieden.

Ein paar Bänke weiter sah sie eine Frau mit zwei kleinen Mädchen, die hinter der Bank im Gras saßen und mit einem Ball spielten, den sie sich gegenseitig zurollten. T-Shirt-Mama grüßte sie freundlich und fragte, ob der Platz neben ihr auf der Bank noch frei wäre. Die Frau nickte und rückte etwas zur Seite.

Nach ein paar Minuten sagte die Mutter der Mädchen: »Sie waren doch drüben auf der Bank, wo Sarah mit ihrem Yonah sitzt!«

»Sie kennen sie?« Fragte T-Shirt-Mama.

»Ja, kennen wir uns«, antwortete sie.

»Stellen sie sich vor, die hat mir doch tatsächlich versucht, einzureden, dass sie jetzt schon weiß, dass ihr Sohn einmal Arzt sein wird«, sagte T-Shirt Mama und lachte.

Die Mutter der Mädchen legte den Kopf leicht zur Seite als würde sie nachdenken und sagte: »Alle Mütter wollen, dass ihre Kinder Ärzte werden, ich finde das einen Blödsinn.«

»Sehen sie, das hab’ ich auch gesagt, es sollte doch die Entscheidung der Kinder sein!« Sagte T-Shirt-Mama und freute sich über die Zustimmung.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht…«‚ sagte die andere Mutter und bewegte den Kopf langsam hin und her. »Als Ärzte fangen sie doch erst an zu verdienen, wenn sie vierzig sind und heiraten viel zu spät, weil das Studium so lange dauert. Meine Töchter würden keine Kinder haben bevor sie dreißig sind, und ich keine Enkel. Meine Töchter werden keine Ärzte, die werden Rechtsanwälte. So wie jeder einmal einen Doktor braucht, braucht er auch irgendwann einmal einen Anwalt.«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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