MARYAM MIRZAKHANI

M

Wissenschaftler sterben heute leise und unbemerkt

Sie bekam 2014 als erste Frau die Fields-Medaille, die höchste Auszeichnung, die an Mathematiker vergeben wird, unterrichtete an der weltberühmten Stanford University, war mit einem tschechischen Wissenschaftler verheiratet, hatte eine Tochter und starb letzte Woche im jungen Alter von vierzig Jahren an Krebs – die Fields-Medaille wurde das erste Mal 1936 vergeben und geht seit 1950 alle vier Jahre an die besten Mathematiker.

In einer Zeit, in der Börsen-Erfolge weitaus mehr zählen als wissenschaftliche Entwicklungen und Entdeckungen, und ein Warren Buffett so berühmt ist wie die einzelnen Beatles, wird kaum jemand im Stande sein, einen der letzten Nobelpreisträger zu nennen, noch weniger eine/n Mathematiker/in. Superstars der Gesellschaft und damit auch der Medien sind heute Entwickler von Apps, mit denen man auf der Toilette sitzend mittels Fingertippen die nächste Rolle Klopapier bestellen kann und damit reich wird, aber kaum jemand, der Jahrelang an einem wissenschaftlichen Problem arbeitet und plötzlich eine Lösung findet.

Einstein, Schrödinger, Planck, Heisenberg und Hahn schafften es zu Lebzeiten in die Bekanntheit und in die Gesellschaftsspalten der Medien, jetzt sind es die Börsenwerte von UBER und AMAZON.

Eine Freundschaft wie die zwischen Einstein und Chaplin ist heute nicht vorstellbar. Welcher Hollywood Star hätte Interesse an einem Wissenschaftler? Wer von den Nobelpreisträgern würde zu einer Oscar-Verleihung eingeladen werden? Über Umsatzzahlen des iPhones und den Aktienwert von Apple wird zwischen Tennisplatz und Heurigen eifrig diskutiert. Wer mit Grundlagenforschung die Voraussetzungen für unsere technischen Spielereien schafft und dafür den Nobelpreis bekommt, interessiert niemanden.

Das mathematische Wunderkind

Maryam Mirzakhani war dennoch eine Ausnahme. Sie galt zeitlebens als ‚Mathematisches Wunderkind’ und nur wenige Frauen wurden im Iran verehrt und respektiert wie sie, trotz ihrer Karriere in den USA. Selbst Präsident Hassan Rouhani riskierte mit der Veröffentlichung einer Gratulation anlässlich der Verleihung der Fields-Medaille einen Skandal – das Foto in dem Glückwunsch-Inserat des Präsidenten zeigte die Wissenschaftlerin ohne Kopftuch. Nicht einmal die religiösen Hardliner wagten zu protestieren oder äußerten auch nur ein kritisches Wort. In einigen staatlichen Zeitungen wurde allerdings ihr Foto mit einem Kopftuch retuschiert oder nur ihr Gesicht gezeigt.

1977  in Teheran geboren, beschrieb sie ihre Teenager Zeit als die einer ‚glücklichen Generation’, als nach dem Ende des Irak-Iran Kriegs eine gewisse Stabilität das Land beruhigte und es für Mädchen und junge Frauen jede Möglichkeit gab, eine gute Schulbildung zu bekommen. Sie zeigte zu Beginn wenig Interesse für Mathematik. Ihre Lehrer erinnern sich, dass sie wie ein ewig hungriges Kind jedes Buch, das sie bekommen konnte, lesen wollte. Am meisten interessierte sie sich für erfolgreiche Naturwissenschaftlerinnen, Marie Curie war ihre absolute Heldin.

Sie konnte stundenlang vor dem TV-Gerät sitzen und sich Dokumentationen über berühmte Frauen ansehen, studierte ihre Lebenswege, was sie motivierte und war fasziniert von deren Begeisterung und Hartnäckigkeit. Eine Denkweise und Methodik, die sie selbst später in ihrem Fach berühmt machte. Kollegen und Kolleginnen bewunderten sie für ihre Ausdauer und Geduld. Sie konnte viele Jahre lang an nur wenigen Problemen arbeiten, wartete nicht auf den plötzlichen Einfall, sondern näherte sich auf kreisförmig konzentrischen Bahnen langsam dem Ziel.

Als Schülerin der Farzanegan-Schule, eines Instituts in Teheran für begabte Kinder, gewann sie 1994 und 1995 die Goldmedaille der Internationalen Mathematikolympiade. Bei der Rückkehr von einem Wettbewerb im Februar 1998, an dem eine ganze Gruppe aus ihrer Schule teilnahm, verunglückte der Bus. Der Fahrer, die beiden Lehrer und fast alle Kinder starben bei diesem Unfall. Mayram Mirzakhani und drei weitere Schüler überlebten. Alle vier machten Karriere auf ausländischen Universitäten.

Nach dem Abschluss des Bachelor-Studiums in Teheran bekam Mirzakhani ein Stipendium für die Havard University, wo sie 2004 promovierte und ihr sofort eine Forschungsstelle angeboten wurde. 2008 folgte sie einem Ruf nach Princton und kurze Zeit später nahm die Professur in Stanford an.

Ihr Spezialgebiet im Bereich der Mathematik ist ‚Normal-Menschen’, selbst wenn sie einen akademischen Abschluss haben, kaum zugänglich. Es geht um Modulräume (was das ist, kann jeder selbst recherchieren; ich hab’s versucht, doch nichts verstanden…), wobei es ihr gelang, Vermutungen und Ideen von anderen Wissenschaftlern mathematisch zu beweisen. Es gelang ihr, durch Querverbindungen von ‚Undenkbarem’ und ‚Unvermutetem’ einen Weg zur Beweisführung von Theorien zu entwickeln, der dem ‚üblichen’ Denkmechanismus der Wissenschaftler unter den Mathematikern widersprach.

Schon 1999, 22 Jahre alt, veröffentlichte sie mit ihrer Freundin Roya Beheshti, die derzeit an der Washington University St. Louis unterrichtet, ein Buch über Probleme elementarer Zahlentheorie, das die Fachleute begeisterte. Die Liste der Preise neben der Fields-Medaille beinhaltet den Blumenthal Award der American Mathematical Society, den Ruth Lyttle Satter Price in Mathematics und den Clay Research Award.

Irans Brain Drain

Mirzakhanis Erfolg in den USA symbolisiert jedoch auch das ‚Brain-Drain’ Problem des modernen Irans. Reza Faraji Dana, ehemaliger Minister für Wissenschaft und Technologie schätzt, dass etwa 150 000 iranische Fachleute das Land in den letzten Jahren verlassen hatten. Er bewertet den finanziellen Verlust mit 150 Mrd Dollar. Neben dem Mangel an modernen Forschungsinstituten sind es die politische Willkür der Polizei und des Gerichtswesens, die viele zur Flucht motivierte.

Negatives Beispiel ist das Schicksal des jungen Wissenschaftlers Omid Kokabee, der auf der Universität von Texas in Austin auf dem Gebiet der Quanten-Optik arbeitete. 2011 besuchte er seine Eltern in Teheran, wurde verhaftet und aufgrund absurder Vorwürfe zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Kokabees Schicksal ist nicht nur eine persönliche Katastrophe, sondern betrifft möglicherweise weitaus mehr Menschen. Sein Spezialgebiet ist eine neue Methode zur Entfernung von Krebszellen, die er auf einem Kongress kurz nach seiner Verhaftung präsentieren wollte. Sein Ansuchen, die Dokumente im Gefängnis soweit fertig zu stellen, damit sie auch ohne ihn vorgestellt werden könnten, wurde von den Behörden abgelehnt.

Maryam Mirzakhani hatte – trotz ihres viel zu kurzen Lebens – das Glück, aus dem Iran fliehen zu können und eine wissenschaftliche Karriere zu beginnen. Ihre Lehrerin Behrang Noohi, die Mirzakhani für die Mathematik Olympiade vorbereitete und heute an der Queen Mary University in London unterrichtet, behauptet, dass 70-80% der Jugendlichen, die bei Wissenschaftlichen Olympiaden Preise gewinnen, ihre Ausbildung im Ausland fortsetzen und nicht mehr zurückkehren würden.

Die Situation scheint für den Iran derart katastrophal zu sein, dass Präsident Rouhani während der Teilnahme an der UN-Vollversammlung die in den USA lebenden Wissenschaftler bat, in den Iran zurückzukehren. Omid Kokabees Schicksal zeigt allerdings, wie wenig der Präsident die Hardliner in seinem Land unter Kontrolle hat.

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications