Eine Weihnachtsgeschichte
Letzte Woche fuhr ich mit einem Freund zum Schifahren nach Zermatt in der Schweiz. Statt einem könnte ich auch meinem Freund schreiben, denn außer ihm wüsste ich niemanden, mit dem ich es fünf Tage in einem verschneiten Dorf aushalten würde.
Der Freund, nennen wir ihn Ronny, kam mit dem Auto aus Graz nach Zürich. Ich landete aus London, und trotz meiner Beteuerungen, dass es wesentlich einfacher wäre, mit dem Zug nach Zermatt zu fahren, saßen wir bald in seinem Auto, verpassten trotz GPS und einer freundlichen Dame, die uns den Weg wies, zweimal eine Abzweigung, fuhren 20 Minuten durch einen Tunnel um am anderen Ende wieder umzukehren, mussten einen Autozug nehmen, um einen verschneiten Pass zu überqueren, und erreichten das Hotel 3 Stunden später als mit dem Zug.
Wir buchten zwei Zimmer. Früher, vor vielen Jahren, als wir beide noch mehr aufs Geld schauten, teilten wir ein Zimmer. Mit dem Alter erreichte uns der Wohlstand und die Gnade, auch ohne Ohrenstoppel schlafen zu können, um unser Schnarchen nicht zu hören.
Ich lernte Ronny 1981 kennen, also vor 36 Jahren. Wir arbeiteten beide als Gruppendynamik-Trainer. Ein Kursleiter hatte Ronny und mich engagiert und uns mit seinem Auto nach Wolfsburg mitgenommen, wo wir in den VW-Werken eine Woche lang im Management-Training eingesetzt wurden. Wir beide saßen auf der hinteren Sitzbank, der Kursleiter hinterm Steuer und einer der Senior-Trainer neben ihm.
Der Leiter versuchte uns auf den Kurs vorzubereiten. Einer der vielen Ratschläge, die er uns gab, betraf den 2. Weltkrieg. „Vermeidet dieses Thema“, bat er uns. Das sei immer noch eine heikle Angelegenheit in Wolfsburg. Ich sah zu Ronny, er zu mir, und wir beide fingen an zu lachen. „Und wie stellst du dir das vor, wenn einer von uns beiden aussieht wie eine Stürmerkarikatur?“, fragte ich. So lernten wir uns kennen und sind immer noch befreundet, haben inzwischen beide das Alter erreicht, in dem man Kollegen und Kolleginnen hauptsächlich im Weg steht und reisen gerne gemeinsam.
Im Hotel in Zermatt saß eine dunkelhaarige Empfangsdame, die den Scheitel in der Mitte des Kopfes diesen Morgen offensichtlich nicht richtig erwischt hatte, und das so geteilte, herunterhängende Haar auf einer Seite etwas länger war, jedoch das abstehende Ohr kaum verdeckte. Vor ihr stehend auf den Zimmerschlüssel wartend, starrten wir auf eine halb geöffnete Bluse, bei der die oberen zwei Knöpfe unmöglich rein zufällig nicht geschlossen waren. Im Lift begannen wir zu diskutieren, wen von uns beiden sie wohl heute Abend im Zimmer besuchen werde und wussten beide, dass sie keinen von uns beiden besuchen würde.
Doch darum ging’s auch nicht. Denn mit dem Beginn des Urlaubs gab es eigentlich nur zwei Themen: Sex und Tod. Zwei alberne, alternde Männer, die sich hemmungslos jedem Klischee hingaben und genauso waren, wie man sich Männer in diesem Alter vorstellt und sie dargestellt werden. Alte dumme Männer eben, dicklich, mit nur mehr wenig Haaren auf dem Kopf und roten Flecken im Gesicht, einer schwindenden Potenz, mit einem einfachen Gemüt, einer sich wiederholenden, reduzierten Fantasie und einem beschränkten Sprachschatz.
Was uns jedoch vom Klischee der frustrierten, alten Männer unterscheidet, ist unser Humor, das ‚Sich-Lustig-Machen’ über alles und nichts, über jeden und jede und vor allem über uns selbst. Die so wichtigen Themen unserer Gespräche enden in Relativierungen, zynischen Bemerkungen und Witzen, die weder Schwermut noch Selbstmitleid zulassen. Wir beide sind unsere besten Witze und das sehen auch die Frauen so, mit denen wir scherzen.
Beim Abendessen brachte eine junge Frau die Speisekarte, deren Kleid auf der Rückseite durch einen Zip zusammengehalten wurde, der vom Hals bis zu den Knien reichte. Wenn sie ging, bewegte sich der Zip wie eine Schlange auf ihrem Rücken und jeder Schritt übertrug sich auf den runden Po. Wir warteten jedes Mal vergeblich, dass der Zip endlich platzen würde. „Schick sie um die Weinkarte“, sagte ich zu Ronny und er grinste. Wir wollten sie von hinten beobachten, wie sie sich langsam mit der Schlange auf dem Rücken von uns wegbewegte. Sie kam zurück und lächelte: „Wollen sie auch noch die Dessertkarte?“, fragte sie und wusste genau, was durch unseren Kopf ging.
In der Bäckerei, wo wir nach dem Schifahren einen Kuchen nach dem anderen ausprobierten, servierte eine Studentin mit einem rosa Halstuch, die einfach nur lachte, als wir zum zweiten Mal kamen. Als ich zu ihr sagte, dass ich das nächste Mal meinen Sohn mitbringen würde, der würde ihr besser gefallen als ich, lachte sie noch lauter als sonst und schlug mir mit der Hand auf den Rücken. Im Schuhgeschäft trafen wir eine Verkäuferin aus Linz mit hellblond gefärbten Haaren und dunkelrotem Lippenstift, die sich freute, mit uns in ihrem Dialekt sprechen zu können und uns einfach nicht gehen lassen wollte, bis wir endlich ein paar Schuhe kauften, die wir nicht brauchten.
Die rothaarige Schilehrerin bewunderte unser Können auf der Piste und versicherte uns, dass andere Gäste wesentlich längere Pausen machen würden und längst nicht so fit wären. Gut, dass sie nicht erwähnte, wir toll wir ‚für unser Alter’ fahren würden, das hätte unsere Fantasien zerstört wie der Windstoß ein Kartenhaus.
Wir waren umringt von jungen, schönen Frauen, die mit uns scherzten, lachten und uns manchmal zufällig berührten, wie die Friseurin, die mir die Haare schnitt und sich gegen mich lehnte, als sie mir die Augenbrauen kürzte. Wir vergaßen unser Alter, unsere Schmerzen und die Medikamente, die wir täglich einnehmen mussten, und wenn wir nicht früh am Morgen eher zufällig in den Spiegel geschaut hätten, wären wir durch diese Tage geschwebt wie Gleichartige unter jenen, die unsere Kinder und Enkel hätten sein können.
Und die Frauen verstanden es, weil sie ohnehin mehr verstehen als wir Männer über Beziehungen, hatten Verständnis für unsere Witze und Anspielungen, auch weil sie so absichtslos und harmlos waren. Sie blödelten mit uns, reagierten schlagfertig auf unsere Bemerkungen und ihr Lachen schenkte uns diese zeitlosen Momente, in denen nichts, aber auch gar nichts wichtig war.
Wie lange noch?
Dann erreichte mich der Anruf der Ehefrau eines ehemaligen Schulkollegen. Purzl, der 5 Jahre lang in der Schule neben mir saß, und den ich besser als ihn seine eigene Mutter kannte, lag im Sterben.
“Der würde der vierte sein aus meiner Klasse, der nicht mehr am Leben ist”, sagte ich zu Ronny. Wir starrten irgendwie ins Leere, schwiegen ein paar Minuten und überlegten wahrscheinlich beide, wie viele Jahre oder Monate wir wohl noch übrighätten. Als würde uns jemand erinnern, dass auch wir bald an der Reihe wären. Ja, wir stehen noch auf zwei Beinen, gehen den ganzen Tag Schifahren und können auch manchmal mit unseren Frauen schlafen. Aber wie lange noch? Das ganze Leben hat uns die Frage ‚Wie lange noch’ nie beschäftigt. Warum lässt sie uns jetzt nicht in Ruhe?
Wir hatten plötzlich keine Lust mehr, in diesem Luxusdorf spazieren zu gehen, und wollten ins Hotel, um uns in die wohlverdiente Depression zurückzuziehen, als mitten auf der Straße eine unglaublich großgewachsene Russin in einem weißen Pelz, mit langen blonden Haaren und einer enganliegenden Hose, wie eine Göttin an uns vorbeischwebte und mit ihrem eher älteren, rundlichen Begleiter in einem Uhrengeschäft verschwand.
„Wir könnten doch nach Thailand gehen und dort auch so leben. Mit einer jungen Frau, die uns den ganzen Tag verwöhnt“, sagte Ronny mit einer fast weinerlichen Stimme. „Ja, könnten wir“, antwortete ich ihm und wir wussten beide, dass wir es ohnehin nie tun würden. Und doch stellten wir uns es vor, dieses Leben in der Sonne, Hand in Hand mit einer Jugend, die uns an das Leben erinnert und den Tod des sterbenden Schulkollegen vergessen läßt.
Wir gingen an einer Apotheke vorbei und mit dem Arztausweis meines Freundes konnte ich ein Medikament kaufen, das ich zu Hause vergessen hatte. Die Verkäuferin zeigte uns noch ein paar andere Produkte, meist absurde Kombinationen, die den Kräfteverlust angeblich ausgleichen würden. Auf den Packungen stand Vitamin-Kombinationen für Senioren, Mineralien für Senioren, Aufbaustoffe für Senioren.
„Und was kostet eine Packung Viagra?“, fragte ich die Verkäuferin. Sie wich zurück und sagte fast schon empört, dass ich dafür ein Rezept benötigen würde. „Warum, mein Freund hat doch einen Arztausweis“, entgegnete ich. Stimmt, das habe sie vergessen, sagte sie und drehte sich um, um von irgendwo eine Packung zu holen. Wir sind wenigstens ein Markt, wenn wir schon sonst nichts mehr sind, sagte ich zu Ronny.
Als wir die Apotheke verließen fragte mich Ronny, wofür ich das Viagra hier in Zermatt brauchen würde. Für gar nichts, antwortete ich ihm. Mir wären nur die Produkte gegen Kräfteverlust, die sie uns zeigte, auf die Nerven gegangen.
Zurück im Hotel versuchte ich, mich an meinen Schulfreund zu erinnern. Sein Vater arbeitete als Bahnhofsvorstand von Penzing an der Westbahn. Den Bahnhof gibt es heute nicht mehr. Im Keller des Bahnhofsgebäudes durfte Purzl ein Zimmer als Partyraum umbauen. Dort trafen wir uns jeden Freitag und Samstagabend mit anderen Mitschülern, die Freunde und Freundinnen mitbrachten. Erinnerungen an eine Zeit, in der wir ausgelassen und unbefangen die Tage vorübergehen ließen und an das Morgen dachten ohne Ängste, wie viele Morgen man noch übrighätte.
Mir kamen die Tränen, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Ich sah mich neben Purzl in der Schulbank sitzen. Er war schon als Jugendlicher dicklich und unbeweglich und hatte ein Glasauge und trug jahrelang den selben schwarzen Anzug, während wir, wie es damals Mode war, lange Pullover anhatten, die bis an die Knie reichten. Wir lernten oft nachmittags gemeinsam und halfen uns gegenseitig bei Schularbeiten, und den anderen Mitschülern war klar, wer Streit mit dem einen anfing, musste mit dem anderen rechnen. Das alles sollte in der Erinnerung verschwinden, die auch mit mir verloren gehen würde?
Es halfen keine Gedanken an schlangenförmige Reißverschlüsse, oder eine Friseurin, die ihre Brüste gegen meinen Rücken drückt, und keine Studentin in der Bäckerei, die mir auf die Schultern klopft. Das eigene Ende konnte ich immer wieder für eine Zeitlang versuchen zu ignorieren. Doch wenn Menschen einfach verschwinden, einer nach dem anderen, die immer da waren, dann stimmt irgendetwas nicht.
Viele der Mitschüler hatte ich vergessen, dachte nie an sie, und andere, an die ich mich erinnere, habe ich seit der Schule nicht mehr gesehen. Durch ihren Tod habe ich das Gefühl, als würden sie plötzlich wieder neben mir sitzen.
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