JÜDISCHE KRONZEUGEN FÜR ISRAELKRITIK

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Wie innenpolitische Diskurse zu Kritik am israelischen Staat werden

Kürzlich nannte der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari Israel eine „Coronavirus Diktatur“. Netanjahu habe die Wahlen verloren, twitterte Harari, er „hat unter dem Vorwand Corona zu bekämpfen, das israelische Parlament geschlossen, den Menschen befohlen, in ihren Häusern zu bleiben, und erlässt alle von ihm gewünschten Notverordnungen. Das nennt man eine Diktatur“. In Italien, Spanien und Frankreich würden Notverordnungen von einer vom Volk gewählten Regierung erlassen, begründete er seinen Vorwurf und fuhr fort: „Das ist legitim. In Israel werden Notverordnungen von jemandem erlassen, der kein Mandat des Volkes hat. Das ist eine Diktatur.“ 

Abgesehen davon, dass es einiger Verrenkungen bedarf, um den Spitzenkandidaten der stimmenstärksten Partei, die vier Mandate dazugewonnen hat, als Wahlverlierer zu bezeichnen, beruht Hararis Satz auf einem erstaunlichen Verständnis von parlamentarischer Demokratie.

Bei allen Unterschieden im jeweiligen Wahlrecht: Wie in Deutschland, Österreich oder eben Israel wählt das Volk in Spanien und Italien nicht seine Regierung, sondern Parteien, aus denen sich später die Regierung bildet. Selbst in Frankreich, wo der direkt gewählte Staatspräsident alle Regierungsmitglieder ernennt, ist dieser selbstverständlich auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen. Verfügt er darüber nicht, stutzt die Verfassung seine Kompetenzen im Wesentlichen auf die Außen- und Verteidigungspolitik zurecht (in Frankreich nennt man eine solche Konstellation Cohabitation).

Harari zufolge wäre jede parlamentarische Demokratie eine Diktatur, deren Regierung nicht direkt vom Volk gewählt wird oder keine absolute Mehrheit hat. Das ist natürlich hanebüchener Unsinn, und ein Intellektueller vom Format Hararis weiß das auch. 

Warum selbst kluge Menschen Unsinn schreiben

Die politische Auseinandersetzung wird immer schriller, lauter und maßloser. Politiker, Journalisten und Intellektuelle füttern ihre Twitterblasen mit Botschaften, die in 280 Zeichen gepackt werden wollen. Da bleibt wenig Platz für reflektiertes Abwägen oder fundierte Analyse. Laut gewinnt. Linksintellektuelle Blasen sind da keine Ausnahme: So leicht man die Tweets von Donald Trump als fake news entlarvt, so leichtfertig nimmt man jene der eigenen Helden für bare Münze. 

Wenn man’s weiß, ist das nicht weiter schlimm, und warum sollte das in Israel anders sein als in jeder anderen Demokratie. Netanjahu ist vielen verhasst, aber so erfolgreich, dass man ihn nicht los wird. Daher suchen seine politischen Gegner ihr Heil in der rhetorischen Eskalation. Nach demselben Mechanismus wurden der österreichische Kanzler zum „Baby-Hitler“ und die deutsche Kanzlerin zur „Volksverräterin“ erklärt.

Von der Innenpolitik zur Israelkritik

Doch eines ist bei Israel anders: Die israelischen Kritiker ihrer Regierung werden im Ausland zu jüdischen Kronzeugen für die Kritik am jüdischen Staat. 

Das scharf formulierte innenpolitische Argument – das wie überall kaum zur Beschreibung der Realität taugt, sondern der Durchsetzung des eigenen Standpunkts dient – mutiert auf dem Weg in den SPIEGEL oder in die Süddeutsche Zeitung zum vermeintlichen Beweis, dass der jüdische Staat, wenn überhaupt, nur eine Demokratie niederer Ordnung sei; ein Apartheidstaat unter einem rechtsradikalen Ministerpräsidenten. 

Nur weil sie dieses Vorurteil konsequent in englischer Sprache bedient, wurde die im Inland völlig unbedeutende Haaretz  außerhalb Israels zur einflussreichsten Informationsquelle über Israel. Auch bei Lesern, die nie auf die Idee kämen, ihr gesamtes Wissen über Deutschland aus der taz  oder der Jungen Welt  zu beziehen.

So kam es, wie es kommen musste. „Corona-Krise in Israel: Netanyahu, der Corona-Diktator“ lautete der ursprüngliche Titel von Christopher Sydows Text im SPIEGEL, den der Autor auf Twitter mit dem Satz bewarb: „Das Coronavirus hat in Israel ein erstes Opfer gefordert: die parlamentarische Demokratie.“ Zu diesem Zeitpunkt war in Israel gerade ein Holocaust-Überlebender als erster an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Später wurde die Überschrift ohne Hinweis geringfügig abgeschwächt, aber die Botschaft blieb dieselbe. In den Tagen darauf wurde Israel immer wieder von verschiedenen Seiten in die Nähe eines autoritären Staates gerückt, die Saat war aufgegangen. 

Eine multikulturelle Demokratie

Eine Demokratie erkennt man nicht daran, wie die Opposition über die Regierung spricht oder umgekehrt, sondern an Gewaltenteilung und dem Funktionieren von Institutionen. Dass der Ministerpräsident die Verwendung von Daten des Inlandsgeheimdienstes zur Corona-Bekämpfung ohne Befassung des Parlaments autorisiert hat, sagt nichts über die israelische Demokratie; dass der Oberste Gerichtshof diesen Beschluss kippen und umgehend ein parlamentarisches Komitee zur Kontrolle dieses Programms anordnen konnte, alles. 

In Wirklichkeit ist Israel, das nur wenig größer ist als Niederösterreich, geradezu ein demokratisches Wunder. Ein Land, das sich vom Tag seiner Gründung an gegen seine Vernichtung wehren musste und ständig mit Terroranschlägen konfrontiert ist, ein Land, auf das jedes Jahr tausende Raketen abgefeuert werden, und dennoch ein Land, das in keiner Phase seines Bestehens auch nur in die Nähe einer Diktatur gerückt ist. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie Deutschland aussähe, wenn es immer wieder von Polen angegriffen oder aus dem Elsass beschossen würde, oder was in Österreich los wäre, würden jede Woche slowenische Raketen auf Kärnten abgefeuert. 

Dazu kommt eine weltweit wohl einzigartige Integrationsleistung. Die israelische Gesellschaft ist in einem Ausmaß multi-kulturell, multi-religiös und multi-ethnisch, wie es für Europäer nur schwer vorstellbar ist. Schon gar nicht in Ländern, die noch für die dritte Generation von Einwanderern einen Integrationsbeauftragten brauchen. 

Die vereinigten Israelkritiker aller Länder ficht das nicht an, sie folgen immer demselben Schema: Im ersten Schritt spricht man Israel die demokratische Legitimation ab, im zweiten stellt man seine Existenzberechtigung in Frage. Der zweite Schritt wäre ohne den ersten gar nicht möglich.

Zuerst erschienen auf mena-watch


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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.