JOHN BERCOW, SPEAKER OF THE HOUSE

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Photo: UK Parliament, CC-BY-NC 2.0

Der Jude als Speaker im House of Commons

»The Speaker of the House« im britischen Parlament kennt jeder, der einmal die Live-Übertragung einer Debatte beobachtet hat. Mit scharfer, lauter Stimme und der dazugehörigen Mimik mahnt er die Abgeordneter zur Ruhe, unterbricht sie, oder schimpft sie zusammen als wären sie keine Parlamentsmitglieder, sondern Schüler in einer Volksschulklasse. 

Sein provokantes Verhalten hat in den letzten zehn Jahren öfters Aufsehen und auch Protest erregt, und so mancher Premierminister reagierte irritiert und verwundert auf die Interventionen des Speakers. Doch er wird auch bewundert wegen seiner Schlagfertigkeit, seiner sprachlichen Eloquenz, und niemand scheint in diesem ehrwürdigen Haus die oft komplizierten Regeln zu kennen wie er, und niemand wagt es zu widersprechen, wenn er sich in eine Debatte einmischt.

Weniger bekannt sind der Background und die Herkunft von John Bercow. Im Jahr 1900 kam sein Großvater als 16-Jähriger ohne Eltern und Verwandte mit praktisch nichts nach London aus einem jüdischen Shtetl in Rumänien, wo sich seit dem Mittelalter wenig verändert hatte. Er schlug sich mit verschiedenen Arbeiten durch, bis ihn ein Pelzhändler als Hilfskraft angenommen hat, wo er das Handwerk des Kürschners erlernen konnte. Später eröffnete er seine eigene Pelzhandlung. Sein Sohn, Bercows Vater, interessierte sich für Autos und besaß bald ein erfolgreiches Autogeschäft, doch als John Bercow als junger Mann zur Schule ging verspekulierte sich sein Vater, verlor das Geschäft, seine Frau verließ ihn, und er brachte sich als Busfahrer durch.

Die jüdische Tradition verlor trotz allem Chaos nie ihre Bedeutung in der Familie. Der junge John hatte seine Bar Mitzvah in der Finchley Reform Synagogue und lebte bis zu seiner Universitätszeit im jüdischen Viertel im Norden von London, einem Stadtteil mit einer der größten Konzentration von Juden in Europa. Er wurde der erste Jude in der Geschichte des britischen Parlaments – House of Commons –, der zum Sprecher nominiert wurde, reiste in dieser Funktion nach Israel, das zuvor noch nie von einem Sprecher des Hauses besucht wurde und empfängt regelmäßig Delegation von Jüdischen Organisationen im britischen Parlament. 

In der Diskussion um den wachsenden Antisemitismus, der vor allem Vertreter der Labour Party betrifft, vertritt er eine schonungslose Position und kritisiert in seiner offenen, typisch rücksichtslosen Art und Weise das Verhalten von politischen Vertretern. Bezüglich Holocaust und Antisemitismus gäbe es keine Kompromisse und keine Nachsicht, meinte er mehrere Male und warnte, sich auch in seiner Funktion als Sprecher des Parlaments zu diesem Thema, wenn immer es notwendig sei, lautstark zu Wort zu melden. 

Seine rhetorischen Fähigkeiten habe er in seiner Kindheit trainiert. Er sei als Kind meistens der Kleinste der Klasse gewesen und hätte sich stets gegen die oft aggressiven Angriffe und Verhöhnungen zu wehren gewusst, sagte er einmal in einem Interview. Das sei ein gutes Training gewesen für den harten Job im Parlament. Er habe ein besonderes Gefühl und eine Spürnase für untergriffige Attacken und Angriffe »unter der Gürtellinie«.

Auf der Universität schloss er sich dem sogenannten »Monday Club« an, einer erzkonservativen Studentengruppe, die Einwanderung und Asyl ablehnte, und wurde sehr bald zu einem der Vertreter der »Federation of Conservative Students« gewählt, die allerdings eines Tages von den Tories selbst geschlossen wurde, weil die aggressive, rechts-konservative Politik der Gruppe zu einer Blamage für die eigenen Partei geworden war.

Nach dem Studium arbeitete er für kurze Zeit als Assistent eines Ministers, bis er 1997 als Vertreter der Konservativen für den Bezirk Buckingham ins Parlament gewählt wurde. Selbst der sensationelle Sieg von Tony Blair konnte John Bercows Sieg in seinem Bezirk nicht gefährden, und er behielt seinen Platz im Parlament.

Als Abgeordneter im Parlament veränderten sich seine politischen Ansichten, er wurde toleranter und setzte sich für gleichgeschlechtliche Heirat ein, für die Rechte von Minderheiten und ein großzügiges Einwanderungsgesetz. Sehr zum Schock seiner erzkonservativen Kollegen und Kolleginnen begann er mit seiner geschickten Rhetorik und Überzeugungskraft die altmodische Konservative Partei, die sich von der Ideologie einer Margret Thatcher nicht lösen konnte und eine Wahl nach der anderen verlor, Schritt für Schritt zu modernisieren und gilt heute als einer der Väter des Wahlerfolgs von David Cameron. 

»Wir sind in den Augen der Bevölkerung eine rassistische, sexistische, homophobe Partei, die vor allem von der Jugend abgelehnt wird. Wenn wir jemals wieder eine Wahl gewinnen wollen, müssen wir uns ändern«, sagte er auf einem Parteitag und wurde sowohl bejubelt als auch ausgepfiffen.

Seine vehementesten Kritiker innerhalb der eigenen Partei führen diese Änderungen in seiner politischen Haltung auf die Ehe mit Sally Illman, einer Labour Aktivistin, zurück, die selbst in jungen Jahren eine vehemente Anhängerin der Konservativen war, sich jedoch später den Linken anschloss. Einer der Kollegen von Bercow in der konservativen Partei machte sich über ihn lustig mit der Bemerkung, dass Johns Problem die Tatsache sei, dass er Sex und die Labour Party zur gleichen Zeit entdeckt hätte. 

Trotz seiner grandiosen ideologischen Unterstützung von David Cameron, der nach etlichen Wahlsiegen der Labour Party endlich eine Wende schaffte, wurden die beiden nie Freunde und konnten einander nicht leiden. Bis eines Tages Bercow die letzte noch funktionierende Verbindung zwischen den beiden zerschnitt mit seiner zynischen Kritik der britischen »Upper-Class«. Als Cameron wiederholt seine Kameraden und Freunde aus den reichen Familien in die Regierung holte, kritisierte ihn Bercow mit den Worten:

In einer modernen Welt ist die Kombination von Eton, Jagen, Schießen und Mittagessen bei White’s nicht hilfreich, wenn man um die Unterstützung von Millionen einfacher Menschen kämpft.

John Bercow

Bis heute – so heißt es in den Medien – habe Cameron ihm diese Kritik nicht verziehen.

Bercow blieb dem Klischee des Juden treu. Für die einen der Verräter, für die anderen der Emporkömmling, und der Rest bewunderte ihn, ohne ihm je zu trauen. 2009 kandidierte er als Konservativer für die Position des »Speaker of the House of Commons« und wurde vor allem durch die Vertreter der Labour Party gewählt, von den Konservativen stimmten nur wenige für ihn. Kaum gewählt, schaffte er sich neue Feinde, indem er etliche Regeln des traditionellen Hauses außer Kraft setzte oder änderte. 

Die Zeit sei vorbei, in denen das Parlament ein privater Klub für männliche Amateure sei, sagte er in einer Rede und kündigte an, dass er die Krawattenpflicht aufhebe und die Ordner des Hauses keine Perücken mehr tragen müssten. Er selbst werde in Zukunft ebenfalls die schwerfällige und unbequeme Tracht, die er als Sprecher tragen sollte, gegen einen modernen Anzug tauschen.

Doch es ging ihm nicht nur um Äußerlichkeiten. Er bestellte Minister ins Parlament, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen, unterbrach selbst die verschiedenen Premierminister, wenn sie zu lange sprachen, kritisierte öffentlich Männer unter den Abgeordneten, wenn sie sich über Kolleginnen lustig machten, und ließ keine Beleidigungen zu. In seiner aufgebrachten und aufgeregten Art überschritt er oft selbst die Linie der Ordnung und wurde wiederholt kritisiert, bei seinen Interventionen die Ebene der Höflichkeit verlassen zu haben. 

Angeblich hätten einige Abgeordnete gehört, dass er eine Kollegin als »stupid woman« und »fucking useless« bezeichnet habe, und bei seiner Kandidatur 2015 versuchten die Konservativen, seine Wiederwahl zu verhindern, doch die Labour Party rettete ihn ein zweites Mal.

Als gäbe nicht bereits genügend Kontroversen um ihn, erwähnte er bei einem Vortrag vor Studenten, dass er bei der Abstimmung über Brexit für ein Verbleiben von Großbritannien in der EU gestimmt habe. Der Ärger einiger Konservativen steigerte sich bedrohlich, als dann auch noch bekannt wurde, dass angeblich auf dem Auto des Speakers ein Sticker angebracht sei, der ein Verbleiben in der EU unterstütze. Sie forderten seinen Rücktritt, da eine neutrale und faire Organisation des Parlaments nicht mehr gewährleistet sei, doch Bercow erklärte lächelnd den aufgeregten Abgeordneten, dass der Sticker auf dem Auto seiner Frau sei, das er sich einmal ausgeborgt habe.

Über den Einfluss des Speakers bei der Brexit-Entscheidung gehen die Meinungen auseinander mit dem Ergebnis, dass die »Remainer« versuchen, ihn zu überreden, noch länger im Amt zu bleiben, und die »Leaver« alles unternehmen, um ihn loszuwerden. Derzeit zeigt Bercow keine Absicht, von seiner Funktion zurückzutreten.

Über all der Kontroverse steht jedoch Bercows eiserne Unterstützung von Israel und der britischen Jüdischen Gemeinde. Über einen einzigen Abgeordneten lässt er kein kritisches Wort zu und hat nichts als Lob für ihn übrig. John Mann, den Vorsitzenden der parteiübergreifenden Parlamentsgruppe gegen Antisemitismus, nannte er einen großartigen Kollegen, der eine eiserne Energie habe und einen überzeugenden Charakter. Doch auch diese Form der Solidarität und Loyalität schuf ihm in der Vergangenheit mehr Gegner und Kritiker als Freunde. 

Damit rundet sich sein jüdisches Schicksal ab: Der Jude ist in jeder Funktion und in jeder Gesellschaft der Fremde, und egal was er tut, er wird immer auch als Jude beurteilt.

 

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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