IT’S WINTERTIME

I

Sibirische Verhältnisse in Großbritannien

Diese Woche schneite es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in ganz England und auch hier in einem Vorort von London. Am Morgen schien die Sonne, doch die Straßen, Gehsteige und Wiesen in den Parks waren bedeckt von einer dünnen Schneedecke, die nur auf den Straßen bald verschwand und stellenweise glatte, eisige Flecken hinterließ.

Ich zog mir nach dem Frühstück eine dieser dicken Jogginghosen an, die ich von Chicago mitbrachte, wo die Temperaturen im Winter manchmal minus 25 Grad erreichen, und oberhalb der Hose die Kombination von dünnem Pullover und Jacke, die ich sonst beim Schifahren trage.

Auf die erstaunte Frage meiner Frau, wo ich denn bei diesem Wetter hinwollte, antwortete ich: Zum Tennisplatz, wie jeden Mittwochmorgen. Sie lachte nur, schüttelte den Kopf, und alle anderen Bemerkungen möchte ich dem Leser hier ersparen.

Der Weg zu den Tennisplätzen führt über eine steile, enge Straße, die sich bergab in mehreren Kurven um einen Park krümmt, bis man die breitere Straße erreicht, die zum Klub führt. Die Autos fuhren bei dem bisschen Schnee so langsam und vorsichtig, dass ich zu Fuß das Ende des steilen Teils der Straße fast gleichzeitig mit dem Auto neben mir erreichte und manchmal den verzweifelten Fahrer durchs Fenster beobachten konnte. Auf der anderen Straßenseite bergauf kam der Verkehr völlig zum Stillstand, weil einige Autofahrer aus Angst vor der glatten Fahrbahn einfach den Wagen stehen ließen, ausstiegen und Erde aus dem Park neben der Straße auf die Fahrbahn warfen.

Um 09.30 erreichte ich den Tennisclub. Drei Männer waren bereits hier und versuchten mit Schaufeln und Bürsten die Spielfläche vom Schnee zu säubern. Eine halbe Stunde später spielten wir unser übliches Mittwoch-Vormittag-Alte-Männer-Doppel bei winterlicher Sonne und etwa 2 Grad Minus.

The Beast from the East

Dann tranken wir wie immer Tee und aßen Kekse und die Männer hatten diesmal kein anderes Thema als die fürchterlichen Bedingungen, die Großbritannien diese Woche zum Stillstand zwingen würden. Doch es ging nicht um Brexit, sondern die ‚sibirischen Verhältnisse‘, die den Zug-, Auto- und Flugverkehr beeinflussten. Die Flughäfen Edinburgh, Glasgow und Manchester wurden gesperrt, alle Züge nach Schottland storniert und etliche Schulen geschlossen. In Paddington, einem der wichtigsten Bahnstationen Londons, wo auch die Schnellverbindungen nach Heathrow abfahren und ankommen, wurde der Bahnverkehr unterbrochen, weil einige Bahnsteige zu rutschig wären. Schottland erklärte die Warnstufe ‚rot‘, die höchste Ebene in der Skala der Bedrohungen und Gefahren. In den Head-Lines der Tageszeitungen hieß die Kaltfront aus Sibirien kommend: ‚The Beast from the East‘.

Auf meinen Einwand, die Temperatur habe etwa 3 Grad Minus erreicht, und der angeblich dichte Schneefall bedecke die Landschaft mit maximal fünf Zentimetern Schnee, warum dies zu einem derartigen Chaos führen würde, entgegnete man mit dem Einwand, das sei typisch für die Europäer – für die Engländer endet Europa am Ärmelkanal – die würden Großbritannien eben nicht verstehen. Man sei ein Volk von Seefahren und nicht eines von Bergziegen, bemerkte einer spöttisch. Wir seien nicht vorbereitet auf so ein Wetter, meinte ein anderer und es gehe eher um die Angst vor Schnee und Kälte als um konkrete Gefahren. Seine Meinung fand sich in den Bildern in den Zeitungen bestätigt, wo Autobahnen voller Autos gezeigt wurden, die einfach stehen blieben, obwohl die Fahrbahn kaum von Schnee bedeckt war.

Zu Mittag versuchte ich, den Zug ins Zentrum von London zu nehmen. Die Sonne war verschwunden, es schneite leicht, und die Temperatur sank auf minus vier Grad. Auf der Bahnstation wurden die Passagiere informiert, dass der nächste Zug aufgrund des ‚katastrophalen‘ Wetters mindestens eine Stunde Verspätung habe. Man ersuche um Verständnis, jede Durchsage dabei mit britischer Höflichkeit und dutzenden Entschuldigungen.

Er kam tatsächlich nach einer Stunde, war völlig überfüllt, doch er fuhr wenigstens. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, verlautbarte eine Stimme im Zug, dass in den ersten vier Wagonen leider die Heizung ausgefallen sei. Natürlich stand ich im zweiten, eiskalten Wagon und als die Menschen von vier überfüllten Wagonen versuchten, sich gleichzeitig auf den Weg zu den geheizten zu machen, bewegte sich nichts und niemand mehr.

Doch die Station Waterloo, wo die Züge von meinem Vorort ankommen, war wenigstens nicht geschlossen. In der riesigen Wartehalle stand dicht gedrängt eine Menschenmenge, die auf ihre verspäteten Züge wartete. Durch Lautsprecher wurden die wartenden Passagiere gewarnt, nur wenn es unbedingt notwendig sei, Züge zu benutzen, ansonsten lieber nach Hause zu gehen und ein besseres Wetter abzuwarten. Die Temperatur laut einer Anzeige in der Wartehalle immer noch bei minus vier Grad. Auf der Straße schneite es leicht und der Wind wurde stärker.

Wer braucht schon eine Heizung?

Ich hatte einen Termin mit einem Übersetzer, der einige meiner Dokumente ins Englische übertragen sollte. Er hatte sein Büro in einer kleinen Wohnung in Chelsea. Im dritten Stock eines dieser wunderschönen alten Gebäude mit einer unverputzten Außenfront und roten Ziegeln läutete ich, er öffnete und bat mich mit Vollmütze, Schal und in eine Daunendecke gehüllt, einzutreten. Entschuldigte sich sofort, dass die Heizung ausgefallen sei, aber er habe in seinem Arbeitszimmer einen kleinen Elektroofen, sodass wir dort arbeiten könnten.

Wir saßen uns gegenüber an seinem kleinen Schreibtisch, und die drei rot glühenden Drähte des Ofens unter dem Tisch wärmten die Luft rund um das Gerät, so dass meine Beine immer heißer wurden. Plötzlich gab es einen lauten Knall und aus der Steckdose, wo das Kabel zum Elektroofen angesteckt war, stieg eine kleine weiße Wolke.

Nach einem ‚Oh, my god‘ des Übersetzers, ohne dass er aufhörte auf die Dokumente zu schauen und einfach weiter arbeitete, und auch nicht den angebrannten Stecker aus der Steckdose zog, stand ich einfach auf und zog das Kabel aus der Wand.

Es wurde langsam kälter im Raum. Mit seiner typisch britischen Art fuhr er fort, über die Arbeit zu sprechen und unterbrach sich selbst mit spöttischen Bemerkungen über die Absurdität der Situation. Doch er gab nicht auf. Übersetzte bei inzwischen eisigen Temperaturen alle Papiere, die ich mitgebracht hatte, und übergab sie mir.

It’s the weather, stupid

Auf dem Rückweg zum Bahnhof kam ich an einer Schule vorbei, blieb stehen und beobachtete die Kinder wie sie im Schnee spielten und sich gegenseitig mit Schneebällen bewarfen. Bis ein Lehrer auftauchte und die Kinder erinnerte, dass es in dieser Schule verboten sei, den Schnee zu berühren. Er erklärte den Schülern, dass in den Schneebällen kleine Steine oder Eisbrocken versteckt sein könnten und zu Verletzungen führen könnten.

Zu Hause angekommen, freute ich mich auf die Übertragung des Fußballspiels Arsenal gegen Manchester City. Vor dem Beginn der Übertragung diskutieren üblicherweise Fachleute, meist ehemalige Fußballer, das Spiel und sprechen über Strategien und Chancen des einen oder anderen Klubs. Diesmal ging es nur ums Wetter. Sie bedauerten die Spieler und meinten verwundert, man verstehe nicht, warum das Spiel nicht abgesagt wurde. Es sei unzumutbar bei diesen Bedienungen zu spielen.

In der Pause führte Manchester City mit 3:0 nach einer grandiosen ersten Hälfte und einem Spielniveau, das man selten zuvor in der Premier League gesehen hatte. Während der Pause sprachen wieder die Fachleute und das einzige Thema war die Herkunft der Spieler, die aus ganz Europa und Südamerika kommen würden, und was das Wetter in ihren Heimatländern für einen Einfluss auf die Spielweise habe. Das sei ja kein Wunder, dass der XY so gut gespielt habe, meinte einer der Ex-Fußballer, der komme ja aus Skandinavien, und dort spiele man wahrscheinlich jeden Tag unter solchen Bedingungen.

Während es in der ersten Halbzeit nur kalt war, begann es in der zweiten Spielhälfte zu schneien. Die Kamera zeigte immer wieder einen der stehenden und wartenden Tormänner, um dessen Kopf sich ein paar einzelne Flocken im Wind drehten. Der Kommentator war empört, dass der Schiedsrichter das Spiel nicht abbrach. Es sei unzumutbar, unter diesen schrecklichen Wetterbedingungen zu spielen und auch gefährlich für die Spieler.

Nach dem Spiel stellte sich ein Spieler den wartenden Journalisten. Er sprach über das Spiel, immer noch in kurzer Hose und kurzärmeligen T-Shirt. Man könnte das Interview auch verschieben bis er sich wärmere Sachen angezogen habe, schlug ihm der Journalist vor, doch der Fußballer antwortete, das sei schon in Ordnung.

‚Ach, stimmt, sie sind es ja gewohnt unter solchen Bedingungen zu spielen‘, sagte der Interviewer. Der Fußballer schüttelte verwundert den Kopf und meinte, er komme aus Spanien, aber man würde einfach nicht so ein Theater wegen des Wetters machen. Es sei halt kalt, na und?

‚Ihr Briten mit eurem Wetter!‘ Sagte er grinsend.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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