ISRAELKRITIK UND ANTISEMITISMUS

I

Unser viel zu kurzes historisches Gedächtnis

Noch nie hat es so viele Aktivitäten gegen Antisemitismus gegeben wie heute, und dennoch war noch nie in den letzten Jahrzehnten ein derartiges Ansteigen antisemitischer Manifestationen zu registrieren gewesen – auch wenn diese sich in ihren öffentlichen Ausprägungen in das Gewand „legitimer“ Israel- und Zionismuskritik kleiden. Die traurige Wahrheit offenbart sich in privaten Gesprächen. Bislang als kultiviert, gebildet und liberal eingeschätzte Personen outen sich als Anhänger der AfD, fordern einen „kleinen Hitler“ und meinen – meist mit dem Verweis auf Israel und aktuell auch auf Corona – dass Judenverfolgungen wohl ihre »guten Gründe« haben würden. Was jene, die sich so äußern, verbindet, ist – neben dem offensichtlichen Fehlen jeglicher Empathie – ein schockierendes Maß an Nichtwissen und Geschichtsvergessenheit.

Das Heute ist im VorVorVorgestern begründet

Die Debatte um Antizionismus, Israelablehnung und Antisemitismus ist von jener Geschichtsvergessenheit geprägt, die uns außerstande setzt, die unterschiedlichen Wirklichkeiten des Heute durch die Kenntnis ihrer Wurzeln zu verstehen. Unsere sprichwörtliche Obrigkeitshörigkeit, die teils im rabiaten und daher angstmachenden Reformismus von Joseph II, in der kollektiven Furcht vor den Osmanen, in der Prägung durch den Katholizismus und besonders durch die teils gewalttätige Gegenreformation begründet ist, verhindert bis heute Zivilcourage, Offenheit und Ehrlichkeit. Unser sprichwörtliches Zögern, – »…auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben….« (Grillparzer) – verursacht ein geradezu obsessives Faible zum Handeln mit »angezogener Handbremse«. Die ergebnisarmen Endlosdebatten über die Zukunft von Bildung, Pflege und Pensionen sind Belege dafür, wie zutreffend Franz Grillparzer uns im Jahr 1848 charakterisiert hat. Daher ist ein staatsoffizielles »Haus der Geschichte«, das erst mit dem Jahr 1918 beginnt, eine blamabler Beitrag zur Förderung der Geschichtsvergessenheit.

Ähnlich liegt es mit den das Judentum betreffenden Themen – auch hier ist unser Wissen teils erschreckend schmal. Dass die Judenvernichtung mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, ist immerhin (noch) rund zwei Drittel der Österreicher bekannt. Dass ab 1893 zwei offizielle »Antisemitenparteien« im Reichstag der Monarchie mit »allerhöchster Duldung« über immerhin 18 Mandate verfügten, ist jedoch kaum präsent. (Frage: Was soll nun mit den zahllosen Kaiser Franz Joseph gewidmeten Straßen, Plätzen, Uferpromenaden und Denkmälern geschehen?). Auch dass Jesus Jude gewesen ist, stößt heute noch auf ungläubiges Staunen. Dieses Missverständnis ist teils in der Karfreitagserzählung begründet, die drei Gruppierungen, die Römer, »die Juden« sowie Jesus und seine Parteigänger gegeneinander polarisiert.

Konfliktherd Naher Osten

In Gesprächen, die um die überragenden Leistungen des Judentums in Wissenschaft, Kunst und Technik kreisen – immerhin kommen über 40% der Nobelpreisträger aus diesem Kulturkreis bzw. aus dieser Schicksalsgemeinschaft – wird oft die Frage gestellt: »Wie kommt es, dass das bestgebildetste Volk der Welt es nicht schafft, im Nahen Osten friedlich mit seinen Nachbarn zusammen zu leben?« Man sollte solcherart Fragende nicht reflexhaft und pauschal des unter dem Deckmantel der Israelkritik verborgenen Antisemitismus verdächtigen. Die Frage ist legitim, man muss sich ihr stellen. Die Annäherung an eine werthaltige Antwort gelingt nicht ohne einen tiefen Blick in die Vergangenheit.

Die Ur-Ur-Ursache für den seit mehr als drei Jahrtausenden bestehenden Konfliktherd »Naher Osten« ist die Summe der Folgen eines von der Natur verursachten Klimawandels, der vor rund 5.000 Jahren die bis dahin fruchtbare und von zahlreichen semitischen Stämmen und anderen Völkerschaften bewohnte arabische Halbinsel in eine Wüste verwandelt hat. Die ihrer Lebensgrundlagen beraubten Menschen begaben sich auf die Flucht nach Norden und nach Westen – in bis dahin weitgehend friedliche Territorien an Euphrat, Tigris und Nil. Damit war der nunmehr seit Jahrtausenden währende Konflikt in dieser Region um Lebensraum, Ressourcen, Nahrung und Sicherheit in der Welt angekommen.

Die Fluchtrichtung der Menschen ist heute übrigens zumeist die gleiche wie bereits vor 5.000 Jahren: Aus dem heißen, klimabedingt unbewohnbar gewordenen Süden in den gemäßigten, viel eher produktive Arbeit und ein menschenwürdiges Dasein ermöglichenden Norden, und vom Osten nach Westen, also der Sonne nach – in jene Richtung, die den hellen und damit produktiven Tag verlängert und die oft dämonisierte und daher gefürchtete Nacht verkürzt. 

Dem Muster »vom Südosten nach Nordwesten« folgt weitgehend auch die große Fluchtbewegung, die 2015 begonnen hat. Der Unterschied zur Zeit vor fünf Jahrtausenden: damals war der Klimawandel naturgegeben, heute ist er zumindest zu großen Teilen von Menschen verursacht.

Seit den Kreuzzügen befeuerten auch die Europäer die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Die Kreuzzüge verursachten – und dies ist wenig bekannt – bereits auf ihrem Marsch durch Europa tausende Todesopfer unter der jüdischen Bevölkerung, Begründung »die Juden sind Gottesmörder«. 

Im 1. Weltkrieg kämpfte die österreichisch-ungarische Armee gemeinsam mit jener des verbündeten osmanischen Reiches auf dem Gebiet des heutigen Israel gegen die Engländer, der späteren, meist unglücklich agierenden Mandatsmacht in dieser Region. Die Mitverantwortung der Europäer für den Nahostkonflikt startet daher mitnichten mit dem Nationalismus und dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts oder mit dem Holocaust, sondern bereits ein knappes Jahrtausend davor. 

Dieser ursächlich vom Klimawandel verursachte und über Jahrhunderte hinweg von Europa in unterschiedlicher Weise befeuerte Konflikt in Nahost währt bis heute. In der Debatte über das von Israel besetzte Westjordanland wird immer wieder übersehen, dass es auch dort eine seit weit über 2.000 Jahren bestehende, ununterbrochene Tradition der jüdischen Besiedlung gibt. Die Stadt Hebron ist das bekannteste Beispiel dafür. Die aktuellen Konflikte im Nahen Osten sind heute aufgrund der stark gestiegenen Bedeutung von Irrationalismen wie fundamentalistischen Religionsauslegungen größtenteils solche, die in keinem direkten Zusammenhang mit Israel stehen. Israel ist nach wie vor der einzige Staat im Nahen Osten, der eine Demokratie im Begriffsverständnis der europäischen Union darstellt.

Jüdische Antisemiten & israelische Israelkritiker

Mit unverhohlenem Vergnügen verweisen Israelkritiker auf jüdische Wissenschaftler, Rabbiner und Künstler, die Israel kritisieren oder diesen Staat rundweg ablehnen und sich dadurch aus der Sicht der Israelkritiker als Kronzeugen gegen den einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten empfehlen. Wer kritisiert Österreich am heftigsten? Ja richtig – die Österreicher! Wer geht mit dem österreichischen Schulsystem am härtesten ins Gericht? Natürlich die Lehrer! Ein österreichischer Automobilweltweister hat seine rennfahrenden Benzinbrüder einst als Idioten bezeichnet, »die nichts anderes können, als im Kreis fahren!« Doch seinen Weltmeistertitel hat er nicht zurückgegeben.

Es gibt tatsächlich einige wenige Israel ablehnende und den Holocaust leugnende ultraorthodoxe Rabbiner, die bei antizionistischen Kongressen etwa im Iran als Ehrengäste in der ersten Reihe sitzen. Sie werden von Antisemiten in aller Welt als Kronzeugen für die Holocaustlüge hofiert. Jüdische Antisemiten – wie geht das?

Es ist ein in der Geschichte immer wieder zu beobachtendes Phänomen, dass Angehörige von Minderheiten, die wie die Juden permanent verleumdet und mit Vernichtung bedroht werden, irgendwann der ständigen Quälereien überdrüssig sind, keine sichere Zukunft für ihre Kinder sehen und sich daher von ihrer Glaubensgemeinschaft abwenden und in manchen Fällen auf die Seite der Gegner wechseln und deren Haltung gleichsam »kompensatorisch« vertreten, um so ihrem Gesinnungswandel Glaubwürdigkeit zu verleihen. Es ist immer wieder zu beobachten, dass sich Opfer von Entführungen mit ihren Entführern solidarisieren – und hinterher ihr Verhalten weder verstehen noch rational erklären können. »Stockholm-Syndrom« nennt die Psychologie dieses oft beschriebene Phänomen mit Bezugnahme auf das Geiseldrama im August 1973 in der schwedischen Hauptstadt. 

Unter konvertierten Juden findet man einige der heftigsten Antisemiten der Geschichte. Johannes Pfefferkorn und Antonio Margaritha sind nur zwei der bekanntesten – letzterer war der »Lehrmeister« von Martin Luther in Sachen Antisemitismus. Ein überaus weit gespannter Bogen von Meinungen und Einschätzungen und der Disput darüber ist ein Wesensmerkmal im Judentum. Das folgende Bonmot ist aus der Zeit der Besiedlung Nordamerikas überliefert: »Wenn sich in einer neugegründeten Stadt zwei jüdische Familien niederlassen, dann gibt es nach kurzer Zeit zumindest drei jüdische Kultusgemeinden.« Diese Meinungsvielfalt ist auch darin begründet, dass es im Judentum keine dem Papst vergleichbare »oberste« Instanz gibt, die sich anmaßt, mit Unfehlbarkeitsanspruch zu dekretieren, was richtig und was falsch ist. 

Was ist nun von den Israel ablehnenden jüdischen Wissenschaftlern, Rabbinern und Künstlern zu halten? Wenig! Man soll sie dennoch hören und über ihre Motive nachdenken – mehr nicht.

Die Lehre aus Israels historischem Wissen

Oft wird beklagt, dass israelische Soldaten an den Grenzübergängen und Checkpoints Palästinenser schlecht behandeln würden. Es ist traurig und abzulehnen, wenn Menschen mit anderen Menschen einen entwürdigenden Umgang pflegen. Nach Israel zu reisen, um solches zu beobachten, muss man allerdings nicht. In den Supermärkten der Wiener »Bobo-Bezirken« wird man immer wieder Zeuge, wie Angehörige dieser selbsternannten »Elite« das dortige Personal – meist handelt es sich erkennbar um zugewanderte Menschen – auf beschämende Weise »von oben herab« behandeln oder überhaupt ignorieren.

Doch zurück zu den meist jungen israelischen Soldaten an den Grenzübertrittsstellen. Viele von ihnen waren als Mitglieder von Hilfsorganisationen und Kriseninterventionsteams direkt mit den Folgen von Selbstmordanschlägen auf Passanten, Restaurants und Busse konfrontiert – Blutlachen, abgetrennte Köpfe und Gliedmaßen, Panik, Verzweiflung. Dass sich unter dem Eindruck der Langzeitfolgen solcher Erfahrungen eine entspannte Freundlichkeit beim Dienst an den Checkpoints nicht einstellen will, ist wohl verständlich. 

»Nie wieder lassen wir uns wie in der NS-Zeit millionenfach wie wehrlose Schafe zur Schlachtbank treiben!« Dieses Bekenntnis prägt Israels Sicherheitsdoktrin. Und vergessen wir nicht: So gut wie die gesamte, weit über 200 Mio. Einwohner zählende arabisch dominierte Welt hat noch vor wenigen Jahrzehnten gedroht, den von gerade einmal von rund 6 Mio. Menschen bewohnten Kleinstaat Israel zu vernichten und »alle Juden in das Meer zu treiben«. Einzelne Länder wie etwa der Iran propagieren diese »Lösungsstrategie« noch heute! Freundliche Entspanntheit kann sich unter solchen Bedingungen wohl nur schwer einstellen.

Epilog – zwischen Stammtisch und Eliteuniversität

Um zu einer einigermaßen »gerechten« Gesamtbewertung der desparaten Situation im Nahen Osten zu gelangen, bedarf es vermutlich der summierten Expertise aller historisch, psychologisch-, philosophisch- und politikwissenschaftlichen Disziplinen einer erstrangigen Universität. Eines steht jedenfalls fest: Der Problemkreis Judentum/Israel/Nahostkonflikt verweigert sich aufgrund seiner extremen Vielschichtigkeit jedem Versuch einer einfachen und erschöpfenden Klärung der »Schuldfrage« – und ist daher als Stammtischthema völlig ungeeignet. Ein wesentliches Charakteristikum des Stammtisches ist »win Prozent Wissen & neunundneunzig Prozent Meinung.« Nötig ist für eine qualifizierte Annäherung an das Thema Nahost jedoch das reziproke Prozentverhältnis.

Durch die eskalierenden, von religiösen Themen aufgeheizten, innerarabischen Konflikte (insbesondere Schiiten/Iran versus Sunniten/Saudiarabien plus ihre jeweiligen Parteigänger) ist Israel heute ein Stück weit aus dem Zentrum des Nahostkonflikts gerückt. Die Annäherung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ist positiv zu werten, wenn dadurch auch die Palästinenserfrage nicht gelöst wird. Hier sind Eskalationen zu befürchten. Innerhalb der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gibt es teils erhebliche Widerstände gegen die Annäherung an Israel.


Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER


Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole