HIER IST NOCH PLATZ

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Missverständnisse im Gasthaus

Vor ein paar Tagen suchte ich um die Mittagszeit einen freien Tisch in einem Gasthaus im 19. Bezirk in Wien. Die groben Holztische mit den polierten dunklen Flecken der Speisereste der letzten hundert Jahre waren alle besetzt. Während ich zwischen den Tischen auf und ab ging und überlegte, ob ich mich zu einem anderen Gast setzen könnte, die mich alle anstarrten, als ob ich der seit langem erwartete Verwandte sei, der ihnen die Erbschaft streitig machen möchte, fiel mir eine Frau auf in der hintersten Ecke im Nebenzimmer, die ihre Suppe löffelte. 

Sie blickte kurz vom Teller auf und deute mit der Hand, dass an ihrem Tisch alles frei sei. Ich setzte mich auf den Platz schräg gegenüber und begann die Speisekarte zu studieren, die auf dem Tisch lag. Der Ober kam, ich bestellte das Tagesmenü ohne Suppe, den panierten Fisch und Kartoffelsalat, den es hier jeden Freitag gibt, ein kleines Bier und nahm das Mobiltelefon aus der Tasche, schaute jedoch auf die Frau, die mit mir am Tisch saß.

Sie hatte ein dunkles Gesicht, ihre Haare kurz und gelockt, die Hände braun an den Oberflächen und mit den hellen Innenseiten der Finger hielt sie den Löffel. Sie spürte offensichtlich, dass ich sie beobachtete, sah mich an und fragte, ob ich Englisch sprechen würde.  Ich nickte und antwortete, dass ich lange in den USA und auch England gelebt hätte und erst seit kurzem zurück in Wien sei.

»Kann ich Ihnen eine Frage stellen, wenn es ihnen unangenehm ist, dann antworten sie einfach nicht.« Sie lächelte und ich nickte wieder und sagte: »Ja, natürlich, es gibt nur unangenehme Antworten.« Sie lachte und sagte: »Ich sitze jetzt hier seit einer halben Stunde. Mindestens zehn Personen sind hereingekommen und haben einen Platz gesucht. Sie sind der erste, der sich zu mir setzte, obwohl ich es allen anderen angeboten hatte.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und da ich nicht reagierte, sprach sie weiter: »Ich bin jetzt drei Jahre in Wien, aber es ist als ob ich gegen eine Wand stoße, niemand will etwas mit mir zu tun haben.«

»Von wo kommen Sie?« Fragte ich, bereits leicht verzweifelt mit einem Versuch, das Thema zu wechseln.

»Aus Nigeria«, antwortete sie.

»Und was machen Sie hier?« Fragte ich, und sie antwortete, sie würde als Röntgenassistentin arbeiten und hätte die Ausbildung in England gemacht.

»Darf ich Sie jetzt etwas fragen?« Sagte ich.

»Ja, sicher«, antworte sie.

»Wie wäre es«, fragte ich, »wenn Sie in ihrem Land in ein Lokal gingen, und dort würde ein weißer Mann an einem Tisch sitzen und alle anderen wären besetzt. Würden Sie sich zu ihm setzen?« 

Sie legte den Löffel weg, lächelte wieder und sagte: »Jetzt haben sie mich ertappt, mit der Frage habe ich nicht gerechnet.«

»Ist es immer gleich Rassismus, oder nur Fremdheit, das einfach Ungewohnte?« Fragte ich.

Sie antwortete nicht gleich, aß weiter ihre Suppe, und sagte als ihr Teller leer war: »Wenn eine weiße Frau in meiner Stadt alleine an einem Tisch sitzen würde, ich hätte kein Problem und würde mich sofort zu ihr setzen.«

»Eben, dann geht es doch nicht um weiß oder schwarz, vielleicht um Vertrauen?« Fragte ich.

»Vertrauen? Fehlendes Vertrauen ist die Grundlage jedes Vorurteils. Hätten sie sich hergesetzt, wenn ein schwarzer Mann hier essen würde?« Fragte sie.

Ich überlegte und versuchte mir die Situation vorzustellen.

»Also, wenn ich ganz ehrlich sein soll…«

»Ja, seien sie es einfach!« Unterbrach sie mich.

»Würde mich ein dunkelhäutiger oder fremd aussehender Mann mit der gleichen Handbewegung wie Sie einladen, hätte ich mich hergesetzt, ansonsten, könnte sein, dass ich ohne lang zu überlegen mich an einen anderen Tisch gesetzt hätte, nicht bewusst, aber…« antwortete ich.

»Na wenigstens sind sie ehrlich!« Unterbrach sie mich wieder und lachte.

Sie bestellte ein Mineralwasser und sprach Deutsch mit einem englischen Akzent.

»Sie sprechen wirklich gut Deutsch, dafür dass sie erst seit drei Jahren hier sind«, sagte ich, und sie antwortete: »Danke, aber ich spreche lieber Englisch, nur wenn es sein muss Deutsch.«

»Ich habe mich übrigens zu Ihnen gesetzt, nicht weil Sie schwarz oder weiß sind, sondern weil Sie mir gut gefallen,“ sagte ich.

Sie lächelte wieder und antworte: »Danke, also geht es nicht um Rassismus, sondern um Sexismus!« Jetzt musste ich lachen.

Der Ober brachte das Essen, auch sie hatte Fisch bestellt. Wir aßen beide langsam, jeder Bissen unterbrochen mit unserem Dialog.

»Offensichtlich setzen wir uns beide lieber zu Frauen«, sagte ich. Sie überlegte kurz und sagte: »Ja, aber ich aus Schutz und Sie aus Interesse an Frauen, das ist ein entscheidender Unterschied.« Ich sagte nichts, was hätte ich darauf antworten sollen.

»Eine andere Frage«, sagte Sie, „wenn hier im Gasthaus zwei Frauen alleine an Tischen sitzen, eine schwarz, eine weiß, wo würden sie sich hinsetzen?“

Ich dachte kurz nach und sagte: »Zu der, die mir besser gefällt.«

»Sehen sie, bei Männern geht es nie um Schutz, sondern immer um Sex. Ihr Sexismus verdrängt sogar ihren Rassismus«, sagte sie

»Warum Schutz? Es hat ihnen keine Angst gemacht, mich einzuladen, hier Platz zu nehmen«, sagte ich.

»Sie sind schon älter, da ist die Vorsicht nicht mehr so entscheidend«, antwortete sie.

»Also war es mehr Mitleid?« Fragte ich und sie lachte wieder und antwortete: »Jetzt seien Sie nicht so, so alt sind Sie auch wieder nicht.« Doch es beruhigte mich nicht.

»Geht es für sie immer nur um Bedrohung oder Sicherheit?« Fragte ich.

»Meistens schon, vor allem für schwarze Frauen, wir müssen uns immer nach der geringsten Gefahr richten«, sagte sie.

Mir fiel plötzlich auf, dass es ruhiger geworden ist in diesem hinteren Raum des Gasthauses mit nur wenigen Tischen, als würden die Gäste an den anderen Tischen versuchen uns zuzuhören. Aber es schien uns beide nicht zu kümmern.

»Aber es muss doch Situationen geben, in denen sie einfach ruhig und gelassen den Alltag erleben?« Fragte ich.

»Vielleicht mit ein paar Kolleginnen, die ich gut kenne, oder mit Freunden aus meiner Heimat, doch die meiste Zeit lebe ich in ständiger Unruhe, eine Normalität, wie Sie sie erleben, gibt es für mich hier nicht«, antworte sie.

»Es kann doch nicht jeder ein Vorurteil gegen Sie haben, vielleicht übertreiben Sie mit ihren Ängsten?« Fragte ich.

»Sie fragen mich, ob ich übertreibe?« Sie legte ihr Besteck weg, sah mich an, ernst und nervös, und ich betrachtete sie genauer, das schmale Gesicht, die großen Augen, den Mund, die eigentümlich runde Nase, und sagte: »Ich weiß, es ist Sexismus, aber Sie sehen wirklich verdammt gut aus!«

Sie lächelte, ihr Gesicht wurde wieder freundlicher und sie sagte: »Als schwarze Frau gibt es drei Gruppen, die mich nicht ernst nehmen. Für die einen bin ich die Fremde, die nach Hause gehen sollte, das höre ich jede Woche in der U-Bahn.“

»Rassisten, also?« Frage ich.

»Rassisten sind sie alle, auch die zweite Gruppe, für die ich ein Sex-Objekt bin!«

»Also Männer?« Fragte ich

»Auch Frauen machen mich an, aber meistens Männer, die glauben als schwarze Frau hab’ die Struktur von einem Emmentaler.« Jetzt musste ich lachen.

»Und die dritte Gruppe bewundert mich, dass ich es hier geschafft habe, Deutsch kann, einen Beruf habe und unabhängig bin. Die loben und bewundern mich wie ein Mädchen, das mit einer Zeichnung vom Kindergarten nach Hause kommt. Die gehen mir am meisten auf die Nerven, die meinen es auch noch gut mit mir! Aber sieht mich irgendwer so wie ich bin?« Fragte sie. 

Ich überlegte mir die drei Gruppen und versuchte mich einzuordnen und fragte sie: »Und zu welcher Gruppe gehöre ich?«

Sie antwortete nicht, aß ihren Fisch und den Kartoffelsalat, legte plötzlich wieder die Gabel weg, sah mich an und sagte: 

»Sie haben ein wenig von allen dreien. Ohne mein Zuwinken hätten Sie sich an einen anderen Tisch gesetzt, weil ich ihnen fremd war, sie nahmen dann doch Platz hier, weil sie mich genauer betrachteten und ich ihnen als Frau gefiel, und während unseres Gesprächs lobten Sie mich für meine guten Deutschkenntnisse nach nur drei Jahren in Wien!«

Zuerst erschienen in NEWS. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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