GEDULD ALS ERFOLGSPRINZIP

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Walter Mischel, der »Marshmallow-Mann«

1930 in Wien geboren, erinnerte sich Walter Mischel an die ersten Tage nach dem Einmarsch der Deutschen, dass sein Vater mitten in der Nacht aus der Wohnung geholt wurde, und er im Pyjama auf der Straße unter dem Johlen der Zuseher mit anderen Juden Pessach feiern musste. Die Familie wollte in den Jahren vor 1938 nicht auswandern, da Walter Michels Vater gemeinsam mit seinem Bruder, Walters Onkel, ein erfolgreiches Schirmgeschäft hatte. Doch in den Tagen nach der Besetzung suchten sie verzweifelt nach einem möglichen Fluchtweg und fanden durch Zufall ein Dokument des Großvaters mütterlicherseits, das ihnen die amerikanische Staatsbürgerschaft garantierte. Der Großvater hatte das Papier nie verwendet und verzichtete auf die Übersiedlung in die USA, doch das unbenutzte Dokument rettete nun der Familie Mischel das Leben.

In Amerika konzentrierte sich Vater Mischel auf sein kommerzielles Talent und eröffnete mit dem Bruder einen Billig-Laden unter dem Namen »five cents, ten cents and up« und wieder spezialisierte er sich auf billige Schirme. Walter Mischel sah seinen Vater und seinen Onkel tagtäglich billige Schirme verkaufen und entschloss sich, koste es, was es wolle, nicht in diesem Laden zu enden. Er entwickelte sich laut Beschreibung seiner ehemaligen Mitschüler und Lehrer zu einem richtigen »Streber«, der jede freie Minute mit Lernen verbrachte und in der Klasse immer allen anderen voraus war. Auf der New York University begann er mit dem Studium der Psychologie, und sehr bald entdeckte Harvard sein Talent und bot ihm einen Platz an. Später nahm er eine Berufung nach Stanford und an die Columbia University an.

Belohnungs-Aufschub

Berühmt wurde Walter Mischel in den sechziger Jahren mit dem »Marshmallow Experiment«. Kinder im Vorschulalter saßen vor einem Teller mit einem Marshmallow. Mischel stellte ihnen frei, die Süßigkeit sofort zu essen oder zur warten und für ihre Geduld belohnt zu werden. Je länger die Kinder zögern würden, desto größer wäre die Belohnung.

Neben der akademischen Interpretation der Ergebnisse gehören die Beobachtungen der Kinder zu den interessantesten Texten der psychologisch-wissenschaftlichen Literatur. Mischel beschrieb bis ins kleinste Detail die Versuche der Kinder, sich selbst zu kontrollieren und sich zu beherrschen. Einer der Buben begann mit dem Stuhl zu schaukeln, krachte mit der Lehne immer wieder an die Wand hinter ihm, starrte an die Decke und atmete tief und schwer. Ein anderer sprach laut zu sich selbst und versuchte, sich in Form eines Dialogs davon zu überzeugen, dass es gut wäre zu warten. Manche begannen zu singen, sich selbst Geschichten zu erzählen oder Kinderreime aufzusagen. Besonders erfolgreich waren jene, denen es gelang, sich völlig von der realen Situation zu entfernen und sich abzulenken. Manche legten einfach ihren Kopf auf den Tisch und versuchten zu schlafen.

Mischels experimenteller Ansatz über »Delayed Gratification« – die Belohnung der Geduld – wurde in Dutzenden Versuchen kopiert, wie dem »Stanford Prison Experiment« über den Kampf um Macht in Gefängnissen, und dem »Milgram Experiment« über Macht und Gehorsam in einem autoritären System, in dem Folter angeordnet wird.

Nur wenige wissenschaftliche experimentelle Anordnungen erreichten eine derartige Popularität wie das »Marshmallow Experiment«. Es fand seine Erwähnung und Nachahmung in der populären Literatur, in den Ratgebern für Eltern und Lehrer und bis zur TV-Show »Sesame Street«, wo das »Cookie Monster« (Krümelmonster) versucht, seine Gier nach Süßigkeiten mit Belohnungen selbst zu kontrollieren. Mischel erwähnte in den Kommentaren zu seinem Experiment auch immer wieder eigene Erfahrungen, wie er versucht hatte, seine besondere Vorliebe für Schokolade einzuschränken. In einer Studie der Fachzeitschrift »Review of General Psychology« wird Walter Mischel an 25. Stelle der am häufigsten in Lehrbüchern zitierten Psychologen genannt.

Doch nicht nur die spontanen Erklärungen der Verhaltensweisen der Kinder machten das Experiment so bekannt, sondern die Beobachtungen der Entwicklung der Teilnehmer über Jahre und Jahrzehnte. Mischel fand einen Zusammenhang zwischen Geduld und Selbstkontrolle im Kindesalter und einer unterschiedlichen Entwicklung in Zusammenhang mit schulischem und beruflichem Erfolg, Übergewicht, Zufriedenheit im Alltag und in Beziehungen. Er stellte die Theorie auf, dass Erfolg und Zufriedenheit im Leben mit der Fähigkeit der Selbstkontrolle verbunden sei, und dass Kinder, die das bereits in jüngsten Jahren zeigen, bessere Fähigkeiten hätten, mit den Problemen des Lebens fertig zu werden. Seiner Meinung nach, sei das Relativieren der momentanen Befriedigung mit der Verknüpfung an das Denken an die Zukunft eine intellektuelle Leistung, die manche Kinder als Begabung mitbrächten und kaum erlernbar sei.

Situatives Verhalten

Walter Mischel starb am 12. September dieses Jahres. Kurz vor seinem Tod veröffentlichten Wissenschaftler eine weitaus größere Studie, in der sie die Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Marshmallow-Experiments kritisierten. Eine zu geringe Anzahl Kinder in der Versuchsanordnung hätte zu Schlüssen geführt, die weitaus komplexer und komplizierter sein würden. Der reine Wille könne nicht die entscheidende Energie für die Entwicklung eines Kindes sein. Ebenso sei damals die Herkunft der Kinder und der soziale Hintergrund nicht berücksichtigt worden. Einer der Kritiker ging so weit, dass er die Erklärungen Mischels mit dem Verhalten jener Kinder verglich, die sofort zugriffen und nicht warten konnten. Doch Mischel bestand auch nie darauf, dass seine Beobachtungen einfach und gradlinig zu Verhaltensmustern und Prophezeiungen der Zukunft der Kinder führen würden. Er benutzte in seinen wissenschaftlichen Arbeiten immer eine einfache, verständliche Sprache für alles, was er beobachtete, und falls es Kollegen anders oder komplizierter sahen, hatte er auch kein Problem damit.

In späteren Jahren beschäftigte sich Mischel mit dem sogenannten typischen Verhalten von Menschen in unterschiedlichen Situationen. Er kritisierte das Katalogisieren von Menschen über ihr Verhalten und untersuchte die Unterschiede unter unterschiedlichen Einflüssen. Er schrieb über Kinder, die sich zu Hause extrem aggressiv verhielten und sich in der Schule völlig anders benahmen. Mutige Bergsteiger, die ein ängstliches Verhalten in sozialen Situationen zeigten, und eifersüchtige Ehemänner, die großzügig und tolerant in ihrer Arbeitswelt waren. Seine Theorie kritisierte, dass ein Trennen der Persönlichkeit eines Menschen von der Situation, in der er sich befände, völliger Blödsinn sei und wurde für seine Kritik von vielen Kollegen als der »Bösewicht« der Persönlichkeitstheorie bezeichnet (the »first villain of personology«).

Als ergrauter Professor erklärte er oft seinen Studenten, dass es ein Phänomen gäbe, das er nie erklären konnte und ihn Zeit seines Lebens beschäftigte. Wie könnten aus kichernden, kleinen Kindern, die nur Blödsinn im Kopf hätten und meistens schliefen, interessante Erwachsene werden, mit denen er faszinierende Gespräche führen könne. Was sei der Grund für diese Entwicklung, und wie werde sie im Laufe eines Lebens beeinflusst.

Doch trotz hunderter wissenschaftlicher Arbeiten und den verschiedensten Theorien, die er im Laufe seines Lebens erforschte und publizierte, blieb sein Name für alle Zeiten mit dem Marshmallow-Experiment verbunden. In einem Interview, als er bereits schwer krank war und sein Ende erwartete, sagte er, er habe kein Problem als der »Marshmallow-Mann« erinnert zu werden. Er sehe seinen größten Erfolg ohnehin in der Tatsache, dass er nicht im Schirmgeschäft seines Onkels endete.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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