AM SCHEIDEWEG

A

Osten: so nah

Kanzler hinterlassen mindestens verbale Spuren. Zum Vermächtnis von Willy Brand zählt etwa: „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“ Die „blühenden Landschaften“ gehören zu Helmut Kohls Nachlass. Beide Male richtete sich der Blick nach Osten, zaghaft zunächst in die Gebiete der ehemaligen DDR, glühend bald aufs Gesamteuropäische übertragen. Denn die Einheit von Ost und West bringt die Deutschen ins Schwärmen. Dahinter steckt nicht nur ein enormes Harmoniebedürfnis, sondern auch die uralte germanische Sehnsucht nach der Tiefe und Stille ostelbischer Weiten, nach den russischen Landen im Norden bis hinab zum Schwarzen Meer im Süden: dem Ursprung der Völkerwanderung, der Herkunft der Goten.

Westen: wie fern

Der Westen bedeutete den Deutschen im Kern immer eher Mühsal. Das seelische Fremdeln mit der neuen Heimat, mit römisch kultivierten Gebieten, hat fast zwei Jahrtausende überlebt und für anhaltende Irritation gesorgt, vor allem wegen des als hektisch empfundenen Handels und Wandels und wegen der dafür notwendigen Ausprägung individueller Stärken. Man zieht Vorteile daraus, so gut es geht, verachtet im Innern aber das finanzdemokratische, kleinteilige Gewese des Marktplatzes. Man träumt stattdessen von heldenhafter Größe, von Reichen und Herrschern, von Regeln in Gemeinschaft und vom geführten, großen Miteinander!

Führung

Die neue Nähe zu Russland, die mit der inneren Abkehr vom Westen korreliert, ist nichts als der Weg zurück zu den Ursprüngen. Die Deutschen machen nur so lange gerne Geschäfte im Westen, bis die physische Not übererfüllt ist. Dann und in seelischer Not wenden sie sich gen Osten, denn dort, speziell im russischen Wesen, fühlen sie sich brüderlich gespiegelt. Und die seelische Not scheint aktuell groß zu sein! Zweifach unverstanden fühlen sich die Deutschen: heimatfern immer schon, nun auch noch entfremdet im multipel sich erneuernden, rissigen Gebilde des Westens: Warum greift keine ordnende Hand ein? Warum regelt man das nicht, die deutschen Rezepte liegen doch auf dem Tisch! Wie soll im Durcheinander gutes Neues entstehen, deutsche Art und Konfusion vertragen sich nicht! Und schon träumt sich die Seele zurück in die Weite des Ostens und glaubt an die Führung dort – die wenigstens nach Führung aussieht und große Einvernehmlichkeit bewirken könnte.

Geselliges Beisammensein

Nichts wärmt die deutsche Psyche mehr auf als Geselligkeit und Miteinander. Das mag der Herkunft aus den kalten Gefilden des Ostens geschuldet sein, wo man als Einzelner bei Frost viel eher erfror als in Gemeinschaft – aber es bedingt auch den Reflex, individuelle Wege für Teufelszeug zu halten. Parallel dazu hat die deutsche Seele das Christentum stets als Kirche, als kollektiv überhöhende Einfindung von Gemeinde missverstanden und der individualistischen Stoßrichtung der Sohn-Gottes-Dogmatik misstraut. Sowas macht nebenher anfällig für die kollektivistische Szenerie des Islam, der aus kollektiv-religiöser Trance und strenger sozialer Ordnung schöpft, oberflächlich der russisch-orthodoxen Ausprägung des Christentums ähnlich.

Halal und haram

Was sich gegenwärtig abzeichnet, liegt also auf der Hand, selbst wenn es Vorbehalte gegen einzelne Umstände gibt: Ordnung und Gemeinschaft liegen als Sehnsuchtsfeld im Osten, dort war die deutsche Seele immer schon zuhause, dorthin will sie in regelmäßigen Abständen zurück. Sind die Verhältnisse unübersichtlich, will sie, wie in diesen Tagen, außerdem gesagt bekommen, was erlaubt und was verboten ist. Sie will wieder eintauchen in die Wohlfühlwelt des Richtigen, nahezu um jeden Preis. Lieber verbannt man Schweinefleisch aus Kindergärten und Schulen, als angestrengt über die Implikationen von halal und haram nachdenken zu müssen. Ebenso freimütig lässt man sich Dieselmotoren und Atomkraftwerke nehmen und sieht noch großmütiger über russische Untaten hinweg: Nicht wenn die Freiheit, nur wenn der Wohlstand in Gefahr ist, wird man widerständig – hier liegt das Fünkchen Hoffnung, das wir anblasen müssen!

Über den Autor / die Autorin

Alexander Gusovius

Alexander Hans Gusovius ist Schriftsteller und Philosoph. Seine Grundüberzeugung: „Nichts geschieht zufällig, ohne deshalb vorherbestimmt zu sein.“ Seine Grundhaltung: „Freiheit ist das höchste Gut von allen.“ Er ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Schwarzer Hut“ und mit dem Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim verbunden. Seine Artikel erschienen bisher in der WeLT, im Schweizer Monat, in MAXIM und in Novo Argumente. Zu seinen Büchern geht es auf www.alexander-gusovius.de.