Echte und falsche Opfer

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Antisemitismus als Bindemittel zwischen Extremisten 

Im Frühjahr 1994 traf ich Jörg Haider in einem italienischen Restaurant in Wien. Ich arbeitete damals für das Magazin Stern  in Hong Kong, kam alle paar Monate nach Wien und seit meinem Interview mit ihm in der Tageszeitung Der Standard  vereinbarten wir, in unregelmäßigen Abständen einfach über ›Alles und Nichts‹ zu plaudern.

An diesem Abend sprach ich ihn auf den Antisemitismus in der FPÖ an. Irgendein Funktionär hatte sich mit einer idiotischen Bemerkung über die NS-Zeit zu Wort gemeldet, es ging durch alle Medien und die Partei wurde völlig zurecht als Heimat der Rechtsextremen verurteilt.  

Jörg Haider versuchte erst gar nicht, die Sache zu leugnen oder zu verharmlosen, sondern sagte, er wisse, dass die Partei aus diesem Eck herauskommen müsse, um in einer Koalition Regierungsverantwortung übernehmen zu können, und sprach mich nach einer längeren Einleitung direkt an: »Warum machen sie nicht mit bei uns, sie könnten fürs Parlament kandidieren«.

Wie er sich das vorstelle, antwortete ich, in einer Partei mit Funktionären und Wähler/Innen voller Vorurteile gegen mich und meinesgleichen? Er lachte und sagte, genau das wolle er, die Partei mit der Realität konfrontieren und so versuchen, die radikalen Elemente los zu werden. Verfolgt man die Geschichte Jörg Haiders waren das seine ›besseren Jahre‹, das änderte sich später, und ich muss – trotz der Empörung, die ich damit auslöste – eingestehen, dass mir die Idee der Kandidatur gefiel, die Provokation und Konfrontation meiner ›Feinde‹ und auch ›Freunde‹, die sie bedeuteten.

Vorurteile, egal von welcher Seite, überraschten mich nicht. In Wien nach dem Krieg aufgewachsen mit Lehrer/Innen, die in der Partei, der Wehrmacht oder Mitglieder der SS waren, setzte sich notwendigerweise ein gewisser Abhärtungseffekt durch. 

Die Mutter eines Mitschülers, der neben mir saß, bat den Klassenvorstand, man möge ihren Sohn versetzten, ich sei ein schlechter Einfluss. Der Religionslehrer, der für den kranken Geographieprofessor die Stunde übernommen hatte, forderte mich auf, auf der Tafel zu schreiben, warum meine Religion besser sei als die der anderen Schüler. Als mein Vater aus der KPÖ austrat, läutete bei uns nächtelang das Telefon mit antisemitischen Beschimpfungen ehemaliger ›Parteifreunde‹. Ein Mädchen brach in Tränen aus, als ich ihr in einer Diskothek beim Tanzen sagte, möglicherweise haben unsere Väter aufeinander geschossen, weil mein Vater als jüdischer Flüchtling sich zur britischen Armee gemeldet hatte. In einem Sportklub in Wien forderten mich Spieler aus einem arabischen Land in der Garderobe auf, ich sollte hier verschwinden, als sie meine Halskette mit hebräischen Buchstaben sahen. Ein freiheitlicher Funktionär zeigte mir einen Zeitungsausschnitt über die Befreiung eines KZs und meinte, die Häftlinge seien gar nicht so abgemagert, wie man immer behaupte. Und für die politisch ›korrekten‹ Gegner während meiner Parlamentszeit war ich das ›jüdische Feigenblatt‹ Haiders, der ›Hofjude der FPÖ‹ und ›Verräter des Judentums‹ – um nur einige der intelligenten Kommentare aufzuzählen. Hemmungslos benutzten sie antisemitische Klischees, um mir ein Naheverhältnis zu Antisemiten vorzuwerfen.

Damit musste ich lernen zu leben – egal, was man tut, wann immer man jemanden verärgert, setzt sich der spontane Reflex des tief im Inneren sitzenden Vorurteils durch.

Benutzbarkeit der Verfolgung

Hetze und Lüge hatten dennoch in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Logik. Von der Leugnung und Relativierung der NS-Verbrechen bis zum Vorwurf der Mitschuld an der Verfolgung wegen Gier und Rücksichtslosigkeit, die den Juden unterstellt wurde. Der Judenhass zeigte sich mit einer perversen Systematik, war berechenbar und wiederholte sich in seiner Banalität, sodass er – wenn auch unappetitlich und verletzend – inhaltlich nie überraschte.

Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Die neue Strategie der Antisemiten ist nicht Leugnung der Shoa, sondern die Benutzbarkeit. Bis ins 19. Jahrhundert gehen die Vorwürfe der Impfgegner zurück, Juden seien die Nutznießer der Impfungen und verantwortlich für die Impfschäden. Jetzt erklären sich die Hetzer selbst zu Juden. Ausgerechnet jene, die den Opfern die Opferrolle verweigerten, übernehmen sie jetzt und vergleichen die Zustände mit der Verfolgung während der NS-Zeit. 

Teenager sehen sich während der Einschränkungen durch Corona in einer vergleichbaren Situation wie Anne Frank. Impfgegner heften sich einen gelben Stern auf die Brust mit der Aufschrift ›Umgeimpft‹. Ein Vertreter der AfD zeigte eine Fotomontage mit dem Eingang von Auschwitz, auf dem ›Impfen macht frei‹ stand, und eine Rednerin in Hannover erklärte, sie sei im Widerstand gegen die Corona-Verordnungen wie einst die Geschwister Scholl gegen die Nationalsozialisten. 

Natürlich reagierten Vertreter der Jüdischen Gemeinden und der Politik mit Empörung und Kritik auf diese Form des Missbrauchs des Holocaust, sprachen von Relativierung und Verharmlosung der NS-Verbrechen und einem ›widerlichen Schauspiel‹ wie Josef Schuster, Präsident des Zentralverbands der Juden in Deutschland, es beschrieb. 

Doch die Sache ist kompliziert und lässt sich nicht mit Empörung aus der Welt schaffen. Auf das Leugnen der NS-Verbrechen und der Gaskammern konnte man sachlich argumentieren mit Dokumenten und Zeitzeugen. Was soll man jedoch einer Frau sagen, die völlig verzweifelt behauptet, sich durch Corona-Verordnungen verfolgt zu fühlen wie die Juden einst durch die Rassengesetze? Die neue Opfer-Täter-Umkehr lässt einen ziemlich ratlos zurück. Die traditionellen Methoden der Kritik und Empörung mit Verweis auf Verharmlosung und Leugnen der NS-Verbrechen prallen von den ›neuen Opfern‹ ab. 

Während in der Vergangenheit der gesellschaftliche Druck und juristische Mittel dazu führten, dass Rechtsextreme und Holocaust-Leugner gezwungenermaßen ihre Behauptungen zurücknehmen mussten, hat noch keiner der Impfgegner, die sich mit einem gelben Stern schmücken, diesen nach der Kritik abgenommen. Wenn deutsche Schlagersänger die Zustände des Lockdowns mit KZs vergleichen, leugnen sie die NS-Verbrechen auf eine diffizile, absurde und indirekte Art und Weise. Bisher hat kein Gericht Kritiker der Corona-Maßnahmen wegen Antisemitismus oder Wiederbetätigung verurteilt, nur weil diese ihren Ärger mit NS-Vergleichen dramatisieren.

Erklärung verweigern

Wenn Zeitzeugen und Überlebende des Holocaust mit Wut und Verzweiflung auf den Unterschied zwischen Auschwitz und Impfzwang mit eigenen Erlebnissen reagieren, zwingt man sie in den teuflischen Kreis der beweisbaren und vergleichenden Symbolik, wer hier das ›echte‹ Opfer sei. Die neuen Opfer drängen Juden in eine Situation, in der sie ihre grausame Geschichte auch noch beschützen und verteidigen müssen, als ob sie jemand stehlen wollte.

Ist diese peinliche Erniedrigung wirklich notwendig? Müssen Juden sich einem Konkurrenzkampf der Opfer stellen und die eigene Vergangenheit als ›Beweis‹ vorlegen? Verlangen die Gesellschaft und wir von uns selbst tatsächlich, mit nachvollziehbaren und überzeugenden Argumenten zu erklären, warum ein Mädchen, das heute wegen der Gefahr einer Infektion nicht zur Schule gehen kann, nichts mit dem Schicksal von Anne Frank gemeinsam hat? Zwingt die historische Verantwortung die Nachkommen der NS-Opfer in diese unerträgliche Situation, den Unterschied zwischen ›echten‹ und ›unechten‹ Opfern belegen zu müssen?

Ich persönlich werde mich aus diesem unwürdigen Schauspiel heraushalten. Ich werde darauf verzichten, den Protestierenden gegen Corona-Verordnungen, die sich mit einem gelben Stern zeigen, den Unterschied zum Leben meines Großvaters zu erklären, der in Wien gezwungen wurde, den gelben Stern zu tragen, aus seiner Wohnung gejagt wurde, sein Geschäft verloren hatte, von betrunkenen Nazis auf offener Straße verprügelt und ein paar Jahre später in Maly Trostinez in der Nähe von Kiew ermordet wurde.

Zuerst veröffentlicht in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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