DIE DENUNZIANTEN

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Foto: Karl-Marx-Hof, © Dreizung, CC BY-SA 3.0

Wenn Angehörige der Oberschicht die niedrigeren Schichten verhöhnen

»Danke, dass du dir Zeit genommen hast«, sagte ein Journalist aus Berlin zu mir in einem Wiener Café, das er vorgeschlagen hatte. Wir saßen einander gegenüber, jeder auf einer gepolsterten Sitzbank, zwischen uns ein schmaler Tisch mit einer Marmorplatte. Beide rückten wir nach rechts, um nicht mit den Beinen aneinander zu stoßen, aber es war dennoch zu eng. Er holte ein Schreibheft aus einer alten, abgegriffenen Ledertasche und einen Kugelschreiber, trug ein T-Shirt unter einer braunen Jacke mit ausgefranstem Rand und roch nach Zigaretten.

»Ich habe viel über dich gelesen, das hat mich beeindruckt, und einige Kollegen, mit denen ich diese Reportage vorbereitet hatte, meinten, ich sollte auch mit dir reden.« Er sah mich an, und während er sprach wurden seine Augen größer als erwarte er nun einen Ausbruch der Dankbarkeit. Der Mann hatte lange, graue Haare, die mit einem Gummiband am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasst waren, was ich eigentlich nicht leiden konnte. Doch ich dachte mir, wie oft wird man schon interviewt, und fragte ihn: »Um was geht es denn?«

Er lehnte sich zurück, mit dem Kopf gegen die Lehne, so dass das zusammengebundene Haar sich nach vor wölbte und einen grauen Kranz um sein Gesicht bildete, die Lesebrille fast an der Nasenspitze, schlug er das Schreibheft auf und begann mit dem Kugelschreiber auf der geöffneten Seite zu trommeln.

»Ich möchte über die Stellung der Kultur hier in Wien gegenüber Corona sprechen«, seine Stimme klang plötzlich tief, ruhig und ernst, er machte eine kleine Pause, sah auf sein Heft und fuhr fort: »Besonders über die zwei Produkte, die ja geradezu genial das kleinbürgerlich, faschistoide Verhalten der Österreicher zeigen, das wir ja alle kennen und eine gewisse Tradition hier hat.«

Einen Augenblick lang tat es mir leid, dem Gespräch zugestimmt zu haben, und wollte einfach aufstehen und gehen, doch ich entschloss mich zu bleiben und fragte ihn, was er meine, welche kulturelle Aktivitäten im Zusammenhang mit Corona, und wo er das ›faschistoide‹ Österreich erkenne, wobei ich das Wort ›faschistoid‹ besonders langsam und betont sprach.

»Na, das geile Lied der Nina Proll und die coole Performance der Blockwart-Figur, die zeigen doch genial die österreichische Mentalität«, sagte er, und mir ging die Frage durch den Kopf, warum so viele ältere Männer immer wieder verzweifelt versuchen, wie Jugendliche zu sprechen. 

»Glaubst, dass die Österreicher so sind, wie sie in diesen beiden Produktionen vorgestellt werden?« Fragte ich ihn.

»Natürlich!« Sagte er laut und lehnte sich vor, »na ja, nicht alle, eine bestimmte Schicht halt, das wird doch gut gezeigt, diese Denunzianten-Mentalität, die hier so verbreitet ist, in einer völlig authentischen Sprache!«

›Verstehst du diesen Dialekt?« Fragte ich.

»Nun, vielleicht nicht alles, ist ja total Wienerisch«, antwortete er.

»Nein, ist es nicht«, entgegnete ich ihm, »es ist eine Kunstsprache, und nur wenige Sätze klingen original Wienerisch«.

»Aber Blödsinn!« Sagte er entrüstet. Ich nahm mein Mobiltelefon aus der Jackentasche und suchte das Musik-Video.

»Hör genau zu«, sagte ich zu ihm und spielte den Song. Er starrte auf mein Telefon und sagte: »Wenn das nicht Dialekt ist, was ist es dann?«

Ich erklärte ihm, der Text werde unterbrochen mit hochdeutschen Sätzen, und zwar immer dann, wenn es um eine wichtige Botschaft gehe. Die Sängerin halte den Stil des Refrains nicht durch, weil wahrscheinlich der echte Wiener Dialekt nicht ihre eigene Sprache sei und sie zeigen möchte, wie eine Frau sprechen würde, die aus einer bestimmten Schicht komme.

»Zum Beispiel singt sie: ›es ist verboten, den Virus zu inhalieren‹, und weiter: ›ich schau auf dich, du schaust auf mich und die Regierung schaut auf sich‹, und an einer anderen Stelle ›er sitzt ganz harmlos‹ … all diese Sätze sind nicht in der Mundart gesungen, wie der Rest des Liedes, sondern klingen wie die Wiener Sprache der Ehefrau eines Hochschullehrers, die im achten Bezirk wohnt und nur biologisches Gemüse einkauft. Hör dir den ›Herrn Karl‹ mit Helmut Qualtinger an, oder die Lieder von Wolfgang Ambros, das ist Wiener Dialekt!«

Mein gegenüber wurde nervös. Sein Trommeln mit dem Kugelschreiber auf dem Papier klang lauter und lauter.

»Also, das mit dem Dialekt kann ich natürlich nicht beurteilen, ich komm ja aus Berlin«, sagte er plötzlich und versuchte zu lachen, »doch es zeigt diese Mentalität, dieses Verraten eben, von Menschen, die die Regeln nicht einhalten, wie damals eben, die Österreicher waren doch immer die besseren Nazis!« Wieder versuchte er zu lachen, um der Schärfe seiner Bemerkung etwas wegzunehmen. »Versuchst du jetzt, eine bestimmte Gesellschaft der Österreicher zu denunzieren, als potenzielle Nazis, die heute so sind, wie sie damals waren?« Fragte ich ihn.

»Wieso ich? Ich denunziere doch nicht, es geht um die, die denunzieren in dem Lied!« Er wurde plötzlich lauter.

»Du erstickst an deinen eigenen Klischees!« Sagte ich und spielte das Lied noch einmal, immer wieder unterbrechend.

»Hier, die Tafel an der Hauswand zu Beginn des Liedes, natürlich ein Gemeindebau, Klischee! So stellt man sich im 200 Quadratmeter Altbau oder im Haus im Grünen die Bewohner im Gemeindebau vor. Klischee! Die Frau im dunkelblauen, ärmellosen Kleid, lose zurückgekämmte, schlampig aussende Haare, Klischee! Auf dem Tisch Zigaretten und Bierdosen, Klischee!  Am Küchentisch die Kronenzeitung, Klischee! Hast du nicht das Gefühl, dass hier aggressiv diskriminierend eine gewisse Bevölkerungsschicht kollektiv denunziert wird als potentielle Verräter?«

»Ich finde das völlig in Ordnung, diese Leute so darzustellen, die sind eben so, waren auch immer so«, sagte der Journalist, und jetzt war ich es, der immer lauter wurde. »Und du, und andere so wie du, ihr seid anders, schon äußerlich erkennbar anders?« Fragte ich ihn. Er nickte heftig und klopfte weiter auf das offene Helft.

»Jetzt hör schon auf mit dem Geklopfe!« Sagte ich verärgert, und er legte den Stift auf den Tisch, lehnte sich zurück und legte die Hände in den Schoß. Doch ich war nicht nicht fertig, suchte auf dem Mobiltelefon ein anderes Video und hielt es ihm vor’s Gesicht.

»Wer ist das?« Fragte er.

»Das ist die Sängerin, Nina Proll«, antworte ich. 

»Ich habe sie kaum erkannt«, sagte er leise.

»Eben«, sagte ich. 

»Die ist ja wirklich hübsch«, sagte er und lächelte.

»Schau dir den wunderschön gepflegten Garten an. Das Interview ist wahrscheinlich bei ihr zu Hause aufgenommen worden. Sogar das Unkraut rund um die quadratischen Steine des Weges durch den Garten wurde entfernt. Alles ist perfekt zurechtgeschnitten, fast wie in Schönbrunn. Sie sitzt auf einer weißen Sitzgarnitur, perfekter Kontrast zum Grün des Gartens, sogar die Farben der Pölster sind aufeinander abgestimmt. Sie trägt eine rosa Bluse mit Rüschen und ihre Haare sind kunstvoll frisiert, als hätte man sie für den roten Teppich bei der Oskar-Verleihung vorbereitet. Und hör mal auf die Sprache!« Sagte ich zu ihm.

»Was soll ich da hören, das ist halt so wie die gebildeten Wiener sprechen, nicht Dialekt und nicht Hochdeutsch«, antwortete er.

»Nein, ist es nicht«, entgegnete ich ihm, »das ist perfektes Wienerisch, wie es Absolventen des ›Sacre Coeur‹ sprechen. Die leicht nasale Diktion mit den falschen Betonungen, aaaa und eee werden gedehnt ausgesprochen, wie zum Beispiel ich hab es ‚geaaahhnt‘, ich habe das ›gefüüühhlt‹. Versuch es gar gar nicht, das wirst du nie schaffen, dafür brauchst du Jahre!«

Er blieb eine Weile ruhig und schien nachzudenken. 

»Also gefällt dir das Lied nicht?« Fragte er plötzlich.

»Es ist ein gut gemachtes Lied und sehr gut gesungen, aber es ist inhaltlich eine unfaire Denunziation einer bestimmten Schicht der Bevölkerung, die das nicht verdient. Es ist im Grunde genommen eine Verhöhnung der Unterklasse durch eine Vertreterin der Oberklasse.«

Der Journalist beugte sich plötzlich vor und begann zu schreiben. Dann blickte er auf und sagte: »Ich habe mich dich ganz anders vorgestellt, alle schwärmen doch von deinen TV-Kultursendungen.«

Ich musste lachen und sagte: »Da verwechselt du mich mit meinem Namensvetter. Ich bin der andere Sichrovsky!«

Er wich zurück und sagte so laut, dass es fast alle im Café hören konnten: »Was, der!«

Zuerst erschienen in NEWS. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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