AUFSTAND DER MUTTERSÖHNCHEN

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Was Eymen und Stefan gemeinsam haben

»Anne, daha fazla cep harçlığına ihtiyacım var, bugün başka bir gösteri«, sagt Eymen zu seiner Mutter, als er am späten Vormittag aus dem Kinderzimmer kommt, das er mit seinem jüngeren Bruder teilt, der schon längt in der Schule ist. Es bedeutet: »Mama, ich brauche mehr Taschengeld, es gibt wieder eine Demonstration«, was Stefan, etwa gleich alt wie Eymen, in einem anderen Stadtteil seiner Mutter, die in der Küche sitzt, aus dem oberen Stock des Reihenhauses zuruft, wo sein Zimmer gleich neben dem seiner Schwester liegt. Beide leben bei den Eltern. Eymen macht eine Kaufmannslehre, oder sollte eine machen, und Stefan studiert Sozioökonomie, erzählt er zumindest seinem Vater, der ihn meist sonntags beim wöchentlichen gemeinsamen Abendessen nach dem Fortgang des Studiums fragt. 

»Du gehst mir nicht ohne Frühstück aus dem Haus!« Ruft Stefans Mutter zurück, und Eymens Mutter sagt »Kahvaltı yapmadan evimi terk etmiyorsun« zu ihrem Sohn, der fertig zum Ausgehen mit weißen Turnschuhen, schwarzem T-Shirt, einer schwarzen Baseball-Kappe und einer Tasche mit Sportsachen die Wohnung verlassen möchte. Eymens Mutter hat schon Sucuklu Yumurta (Rührei mit Knoblauchwurst) vorbereitet, und als Stefan in die Küche kommt, lässt seine Mutter bereits ein Omelett mit Zwiebel und Tomaten in einen Teller gleiten und stellt ihn auf den Küchentisch. »Ist da auch kein Speck drin?« Fragt Stefan, und seine Mutter schüttelt entrüstet den Kopf und versichert ihm, dass der ganze Haushalt jetzt streng vegan sei, während Eymen klagt, dass da ruhig mehr Wurst in seiner Eierspeis’ sein könnte.

Die beiden Väter sind nicht so zufrieden mit ihren Söhnen. Eymens Vater besitzt ein Gemüse- und Obstgeschäft und schuftet dort zehn Stunden am Tag gemeinsam mit seinem älteren Bruder. Sonntagabend schreit er seinen Sohn an, warum er nicht im Geschäft mithelfe, die Lehre nach Jahren immer noch nicht abgeschlossen habe und sich den ganzen Tag mit Freunden herumtreibe. Ihm gefalle der Einfluss nicht, die diese Fanatiker, wie er sie nannte, auf Eymen hätten, und sagt: »Bu senin için kötü bir şirket!«, wie auch Stefans Vater dessen Freunde kritisiert: »Das ist eine schlechte Gesellschaft für dich!«

Eymens Mutter verteidigt den Sohn, er gehe doch regelmäßig in die Moschee, und das Training im Fitness-Studio und am Fußball-Platz mache ihn kräftig und gesund, und das sei wichtig, wenn Elif aus Anatolien kommen würde, um Eymen zu heiraten. Vaters Einwand, der Sohn sei mit lauter Nichtstuern in diesen Vereinen, überhört die Mutter und greift, wenn der Vater zu Schreien beginnt, nach Eymens Hand, der neben ihr sitzt, und lächelt ihn an. 

Ähnlich und doch anders reagiert Stefans Mutter, wenn dessen Vater aufgeregt doziert, wie mühsam der Aufstieg in den Vorstand der Versicherungsgesellschaft gewesen sei, jahrelange, harte Arbeit, und Stefan hätte noch nicht einmal das Studium abgeschlossen. Doch Stefans Mutter nimmt ihn in Schutz, es sei doch eindrucksvoll, wie Stefan sich für Flüchtlinge und Asylsuchende einsetze, und was für ein Erlebnis auch für sie die Demonstration gegen Rassismus gewesen sei, auf die sie ihn begleitet hatte.

»Und wie schon deine Frisur aussieht!« Regt sich Stefans Vater über den Mohawk-Stil des Sohnes auf, niemand werde ihn je einstellen, wenn er so aussehe, und Eymens Vater schimpft: »Ve saç stilin nasıl görünüyor!« über die hochgeschorenen Haare an den Seiten über den Ohren am Kopf seines Sohnes und fragt, ob er so die Familie seiner zukünftigen Frau in ein paar Wochen begrüßen möchte.

Graue Wölfe und Antifa

Eymen bekennt sich zu den ›Grauen Wölfen‹. »Ülkücüler« nennen sie sich, was so viel bedeutet wie »Idealisten«. Ihr Symbol ist Bozkurt – der Graue Wolf –, der Stärke und Aggressivität der Bewegung symbolisieren soll. Gewalt ist für sie ein berechtigtes Mittel zur Konfliktlösung, und ihre Ansichten richten sich gegen alles, was nicht türkisch ist und alle, die keine Muslime sind. Eymen stört es nicht, wenn er im Fitness-Studio Gewichte hebt, dazu über Kopfhörer dem Rap rechtsextremer Gruppen lauscht und im Spiegel seine Muskeln bewundert, dass die ›Grauen Wölfe‹ eine rassistische Bewegung waren und sind, sexistisch, homophob und antisemitisch. 

Militante, paramilitärische Kommandos verübten unter diesem Namen Dutzende Anschläge in der Türkei. Unter den Opfern waren Sozialisten, Gewerkschaftsführer, Studentenvertreter, kurdische Politiker und fortschrittliche Lehrkräfte. Sie waren verantwortlich für Pogrome gegen Aleviten, und auch Mehmet Ali Agca, der 1981 in Rom das Attentat gegen Paul II verübte, war Anhänger der ›Grauen Wölfe‹. Inzwischen vertreten sie weniger politische Positionen. Jetzt sind es die Prediger des militanten Islam in den Moscheen, die Diskussionen um das Kopftuch, die Stellung der Frau in islamischen Familien und die Ablehnung der Integration, die eine ständig wachsende Mobilisierungskraft auf junge Türken ausüben.

Stefan engagiert sich in der ›Antifa‹-Bewegung, fürchtet die Bedrohung eines neuen Faschismus, und seine ideologische Tradition kommt ebenso wie die der ›Grauen Wölfe‹ aus den Dreißiger-Jahren des letzten Jahrhunderts. Während Eymen nach dem Frühstück seine Tasche nimmt, mit Trainingshose, Turnschuhen und T-Shirt, verspricht Stefan seiner Mutter ganz sicher auf die Uni zu gehen, schnürt sich die hohen, schwarzen Stiefel zu und fährt mit dem Fahrrad direkt ins ›Ernst-Kirchweger-Haus‹, dem Zentrum der Antifa-Bewegung in Wien-Favoriten. Durch Stefans Kopfhörer erklingt das Lied ›Die Moorsoldaten‹, das 1933 von Häftlingen des Konzentrationslager Börgermoor gesungen wurde, die mit einfachen Werkzeugen das Moor ausheben mussten, und natürlich ›Bella Ciao‹, die Hymne der Antifa-Bewegung. Einst von den Reispflückerinnen in der Umgebung von Bologna gesungen, beklagt sie die harten Arbeitsbedingungen. Bekannt wurde das Lied in der Bearbeitung durch die italienische Partisanen-Bewegung während des Zweiten Weltkriegs. 

›Kein Fußbreit dem Faschismus – No pasarán‹, die antifaschistische Parole des Spanischen Bürgerkrieges (1936–1939) ist wieder in Mode, auch bei gemäßigten Linken. Selbst Vertreter der Sozialdemokraten sehen sich heute stolz in der antifaschistischen Tradition und ignorieren die problematische Geschichte dieser Bewegung, wie zum Beispiel den Kampf der Kommunisten in den 1930-iger Jahren gegen die Sozialdemokraten – als ›Sozialfaschisten‹ beschimpft –, der Hitler den Weg zur Macht ebnete. 

Als in der DDR im Namen des Antifaschismus Tausende verfolgt und inhaftiert wurden, der ›antifaschistische Schutzwall‹ (Mauer zwischen DDR-BRD) errichtet wurde, in der BRD die Terror-Gruppe RAF (Rote Armee Fraktion) den Antifaschismus als konstituierende und treibende Kraft und Ideologie im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners innerhalb einer Gruppe oder Bewegung definierte, hätte das Wort im Grunde genommen aus dem Sprachschatz einer modernen Demokratie gestrichen werden müssen. Sie reden vom Antifaschismus und bedienen sich der Propaganda von Bewegungen, für die Antifaschismus nie die demokratische Alternative zu Faschismus war.

Doch Eymen und Stefan denken nicht in historischen Kategorien, es gilt das Hier und Jetzt. Der Kampf zur Bewahrung der nationalen türkischen und islamischen Identität für den einen, und der Widerstand gegen Rechtsextremismus, Fremdenhass und Rassismus für den anderen. An dem Tag, an dem beide nach dem Frühstück ihre Wohnungen verließen, stehen sie abends einander gegenüber in Wien-Favoriten.

Gymen, einen Kopf größer als Stefan, die Finger zu dem berüchtigten Wolfsgruß gespreizt und mit Muskeln, die mit dem Umfang von Stefans Oberschenkeln aus den Ärmeln des T-Shirts herausquellen, und Stefan, schlank, feingliedrig, fast zerbrechlich, jedoch mit einer abgebrochenen Fahnenstange, die er drohend zu seiner Verteidigung mit beiden Händen hält. Furchtlos starren sie einander in die Augen, und hätten ihre Mütter sie gesehen, wären sie so stolz auf beide gewesen.  

Zuerst erschienen in NEWS. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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